Herrscher der Stadtwelten

Veröffentlicht am 24. Februar 2022

Ricardo Bofill war ein Weltstar, als Architektur zur Marke auf internationalen Bühnen wurde und noch niemand wusste, wer Rem Koolhaas ist. Am 14. Januar 2022 starb er im Alter von 82 Jahren. Von vielen Kritiker*innen als Protagonist einer pompösen Postmoderne beäugt, lohnt sich dennoch ein Rückblick auf seine frühen Wohnbauten, in denen er es meisterhaft verstanden hat, den grossen Massstab mit dem menschlichen auszubalancieren.

©Salva Lopez

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«Da steht er mit vierzig Jahren, [...] steigt zum zweihundertsten Mal in den Ring [...], ein Bobby Fisher der Architektur, ein Muhammad Ali der Architektur – ‹mach es nicht, Ricardo›.» 1981 – ein knappes Jahr nach Bofills Auftritt auf der Strada Novissima in Venedig – jubelte Charles Jencks im Ausstellungskatalog an der Londoner AA mit der Verve eines Boxkampf-Moderators über die Durchschlagskraft des jungen Bofill. Jencks war mit seiner Begeisterung nicht allein. In den 1970er-Jahren pilgerten Journalist*innen, Architekt*innen und Stadtplaner*innen nach Barcelona, um den Büro- und Wohnsitz «Fábrica» und den danebenstehenden Grosswohnungsbau «Walden 7» im Vorort Sant Just Desvern zu besuchen. «Mach es nicht»: Damit meinte Jencks den Ruck zur neohistoristischen und monumentalen Fassadeninszenierung aus eingefärbten Betonfertigteilen, die in den 1980er-Jahren zum Markenzeichen von Bofills Büro Taller de Arquitectura wurden. Historische Vorlagen für die städtebaulichen Grossprojekte wie «Antigone» in Montpellier (1978-1999) oder «Cergy St. Christophe» (1981-1986) in der Pariser Neustadt Cergy lieferten der Palladianismus bis zur französischen Revolutionsarchitektur. Gestaltet wurden die beeindruckenden Betonfassaden von Meisterzeichnern französischer Architekturschulen und Stahlbetonfirmen wie Bouygues und Coignet.

Bei Wohnbauten wie la Muralle Roja (oben, 1973) im spanischen Calp oder Walden 7 in Barcelona (1974) stellte Bofill der Anonymität vieler moderner Wohnbauten einfallsreich ausdifferenzierte öffentliche Bereiche gegenüber, durch die jede Wohnung eine eigene Adresse erhielt. ©Gregori Civera

Bei Wohnbauten wie la Muralle Roja (oben, 1973) im spanischen Calp oder Walden 7 in Barcelona (1974) stellte Bofill der Anonymität vieler moderner Wohnbauten einfallsreich ausdifferenzierte öffentliche Bereiche gegenüber, durch die jede Wohnung eine eigene Adresse erhielt. ©Gregori Civera

Bei Wohnbauten wie la Muralle Roja (oben, 1973) im spanischen Calp oder Walden 7 in Barcelona (1974) stellte Bofill der Anonymität vieler moderner Wohnbauten einfallsreich ausdifferenzierte öffentliche Bereiche gegenüber, durch die jede Wohnung eine eigene Adresse erhielt. ©Gregori Civera

Massentauglich

Dass ein Architekt in seinen Vierzigern ein international so beachtetes bauliches Werk vorweisen konnte, war im 20. Jahrhundert eine Ausnahmeerscheinung. Ebenso, dass ein Architekt ohne Architekturdiplom mit 24 Jahren seinen ersten Architekturpreis für einen realisierten Wohnungsbau gewinnt: eine brutalistisch anmutende Baulückenschliessung mit roter Ziegelfassade in der Calle Nicaragua in der barcelonesischen Innenstadt. Ökonomische Bedingung für den frühen Erfolg von Ricardo Bofill war das Bauunternehmen seines Vaters Emilio Bofill Benessat, der bis in die frühen 1970er-Jahre hinein die Bauanträge des Büros unterzeichnete. Die wohlwollende Unterstützung des Vaters erlaubten dem jungen Bofill nicht nur ökonomische, sondern – noch wichtiger – weitreichende intellektuelle Freiheiten: Sie erklären nicht zuletzt Bofills Fähigkeit, massentauglichen Wohnungsbau als gesellschaftspolitisches Instrument zu verstehen. Anders als in den nordeuropäischen Wohlfahrtsstaaten der Boomjahre unterstützte die Wohnbaupolitik Francos eher die Mittelklasse, ignorierte die Slums der spanischen Binnenmigration und setzte auf Immobilienspekulation im Zuge der rasant wachsenden Tourismusindustrie. Genau an diesem Punkt setzten die Arbeiten des «Taller» (zu deutsch: Werkstatt) an – des vom 20-jährigen Bofill gegründeten Architekturateliers, zu dessen Gründungsmitgliedern neben Schriftstellern, Soziologen und Theatermachern nur zwei diplomierte Architekten zählten.

Die Espaces d’Abraxas liegt im Quartier Mont-d’Est des Pariser Vorortes Noisy-le-Grand im Département Seine-Saint-Denis in der Region Île-de-France. Das 1978–1983 errichtete Ensemble mit 600 Wohneinheiten sollte gemässe Bofill ein Versailles des Volkes werden. ©Kristina Avdeeva

Die Espaces d’Abraxas liegt im Quartier Mont-d’Est des Pariser Vorortes Noisy-le-Grand im Département Seine-Saint-Denis in der Region Île-de-France. Das 1978–1983 errichtete Ensemble mit 600 Wohneinheiten sollte gemässe Bofill ein Versailles des Volkes werden. ©Kristina Avdeeva

Die Espaces d’Abraxas liegt im Quartier Mont-d’Est des Pariser Vorortes Noisy-le-Grand im Département Seine-Saint-Denis in der Region Île-de-France. Das 1978–1983 errichtete Ensemble mit 600 Wohneinheiten sollte gemässe Bofill ein Versailles des Volkes werden. ©Kristina Avdeeva

Porosität

Das zentrale Projekt dieser Zusammenarbeit war die «Raumstadt», ein zwischen 1968 und 1972 entwickeltes Stadtprojekt und Gesellschaftsmodell, das seine Realisierung in der Peripherie von Madrid nur knapp verfehlte, aber den Ideengrundstock für kommende Jahrzehnte lieferte. Grundgedanke des Modells war die Auflösung von Strasse und Wohnblock durch ein dreidimensionales Clustern von Mikroeinheiten: Die kleinste Einheit ist das Zimmer, jenseits dessen die Stadt mit ihren kollektiven Freiräumen und sozialen Infrastrukturen beginnt. Ökonomisch sollte sich die Raumstadt auf Basis von kollektiven Eigentümerstrukturen im per Architekturformel geleiteten Selbstbau entwickeln. Praktisch bauten diese Konzepte auf circa sieben Jahren Bauerfahrung mit experimentellen Feriensiedlungen am Meer auf (wie zum Beispiel Xanadú bei Calpe, 1965-1968) sowie Grossüberbauungen für Arbeiter (wie das Barriò Gaudi in Reus 1964-1972). Entscheidend ist: Bei der Raumstadt ging es nicht nur um eine gangbare Antwort auf das Wohnen für alle, sondern um die Erweiterung des Wohnens durch das Angebot kollektiver Erfahrungswelten in der urbanen Peripherie.

Zwischen 1973 und 1975 baute Ricardo Bofill eine stillgelegte Zementfabrik in der Nähe von Barcelona mit über 30 Silos, unterirdischen Gängen und riesigen Maschinenräumen in den Hauptsitz von Taller de Arquitectura um. Die Fabrica war ebenfalls sein Wohnsitz.

Zwischen 1973 und 1975 baute Ricardo Bofill eine stillgelegte Zementfabrik in der Nähe von Barcelona mit über 30 Silos, unterirdischen Gängen und riesigen Maschinenräumen in den Hauptsitz von Taller de Arquitectura um. Die Fabrica war ebenfalls sein Wohnsitz.

Zwischen 1973 und 1975 baute Ricardo Bofill eine stillgelegte Zementfabrik in der Nähe von Barcelona mit über 30 Silos, unterirdischen Gängen und riesigen Maschinenräumen in den Hauptsitz von Taller de Arquitectura um. Die Fabrica war ebenfalls sein Wohnsitz.

Grosse Visionen

Die beiden Projekte, in denen Teile dieser Ideen umgesetzt wurden, sind «Walden 7» in Barcelona (1970-1975) und «Les Espaces d’Abraxas» in der Pariser Neustadt Marne-la-Vallée (1978-1984). Von der Fachöffentlichkeit wurden diese Projekte mit gemischten Gefühlen begrüsst. Zu monumental erschienen die Sogkraft der urbanen Innenräume, zu dunkel die Wohnungen der unteren Geschosse. Die visionäre Kraft und Bedeutung dieser frühen Antworten auf eine sich immer weiter ausdifferenzierende Gesellschaft blieb angesichts des Widerwillens, die postmoderne Ästhetik der späteren Projekte zu akzeptieren, auf der Strecke. Mediales Unverständnis und der Streit mit nahezu allen Gründungsmitgliedern des Taller mögen dazu beigetragen haben, dass sich Ricardo Bofill ab den 1990er-Jahren aus dem Fachdiskurs weitestgehend zurückzog. Dennoch blieb er ein genialer Kommunikationskünstler, Manager und Ideengeber, dessen internationales Büro RBTA bis heute Grossprojekte von Marokko bis China realisiert.

Dieser Nachruf erschien zuerst auf baunetz.de. Die Fotos wurden dem Buch «Ricardo Bofill. Visions of Architecture» des Gestalten Verlag entnommen. Sie finden eine Vorstellung des Titels bei den Buchbesprechungen.

Text: Anne Kockelkorn

Fotos ©Ricardo Bofill Taller de Arquitectura | gestalten 2019

Erscheinung im Arc Mag 2.2022

196983308