Turm zur Cluozza-Hütte

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7530 Zernez,
Schweiz

Veröffentlicht am 18. April 2023
Capaul & Blumenthal Architects ScRL
Teilnahme am Swiss Arc Award 2023

Kontext Im Wald Ensemble Südansicht Im Wald Westansicht Südansicht Schlafkammer Aufenthalt Sitznische

Projektdaten

Basisdaten

Lage des Objektes
Val Cluozza, Schweizerischer Nationalpark, 7530 Zernez, Schweiz
Gebäudeart
Fertigstellung
06.2022
Links

Gebäudedaten nach SIA 416

Stockwerke
3 bis 5
Geschossfläche
60 m²
Nutzfläche
60 m²
Gebäudevolumen
215 m³

Beschreibung

Inmitten des Lärchenwalds im Schweizerischen Nationalpark findet sich das organisch gewachsene Gebäudeensemble der Chamanna Cluozza. Mit dem neuen frei stehenden Holzturm, der als Rückzugsort fürs Personal dient, wird der Bestand in sich logisch weitergestrickt, im wahrsten Sinne des Wortes.

Ausgangslage

Die ursprünglich 1910 erbaute Chamanna Cluozza ist die einzige Übernachtungsmöglichkeit innerhalb des Schweizerischen Nationalparks. Sie kann ausschliesslich zu Fuss erreicht werden und wird nur während der Sommermonate betrieben. Dank des wachsenden Zustroms von Gästen wurden die Platzverhältnisse in der Hütte zunehmend knapper, weshalb nach Lösungen gesucht wurde, um die Betriebsabläufe zu optimieren. Die hierfür notwendigen baulichen Massnahmen mussten den hohen Anforderungen der Schutzziele von Natur- und Landschaftsschutz sowie Denkmalpflege gerecht werden.

Entwurfsidee

Anstatt den Hauptbau abermals zu vergrössern, wurde die Idee des Gebäudeensembles mit Nebenbauten aufgegriffen und dieses um einen frei stehenden Holzturm fürs Personal erweitert. Damit gelang die räumliche und betriebliche Entflechtung mit möglichst geringen baulichen Eingriffen an den Bestandsbauten, deren Dächer wieder mit handgespaltene Holzschindeln oder Brettschindeln eingedeckt wurden. Der Turm als einfache Bauform findet Vorgänger in den Wohntürmen örtlicher Temporärsiedlungen, die zu den ältesten Wohnbauten des Kantons Graubünden gehören. Mit ihnen gemeinsam hat der Turm von Cluozza die vertikale Organisation der Räume auf kleiner Grundfläche und den Verbund zu benachbarten Bauten. Waren die historischen Vorbilder in der Regel aus dicken Natursteinmauern gebaut, so sind die Wände nun aus Lärchenholz «gestrickt». Alle drei Geschosse werden jeweils direkt von aussen erschlossen, wobei das obere über einen Hocheingang verfügt, der über eine Aussentreppe erreichbar ist. Der Verästelung eines Baums ähnelnd verlängern sich bei den zueinander abgedrehten Eingängen die Wandbereiche in Form von Strickvorstössen und lassen den Baukörper so mit dem lockeren Baumbestand des Lärchenwalds zusammenwachsen. Im Innern sind in jedem Geschoss jeweils zwei Eckkammern eingeschrieben. Das mittlere Geschoss mit Schlafkammer und Aufenthaltsraum ist für die Gastgeberfamilie bestimmt, im oberen und im unteren finden sich jeweils zwei Schlafkammern für das Personal.

Projektierung

Mit dem Ziel, den historisch gewachsenen Baubestand auf selbstverständlicher Art und Weise weiterzubauen und gleichzeitig ressourcenschonende Baumaterialien zu verwenden, wurden die natürlichen Baumaterialien verwendet, die am naheliegendsten waren: Holz, Stein und Erde. Durften die Lärchen für den Gründerbau noch vor Ort gefällt und bearbeitet werden, so mussten die für den neuen Strickturm benötigten rund Hundert Lärchen in den angrenzenden Wäldern ausserhalb des Nationalparkgebiets gefällt, auf CNC-Maschinen im Tal verarbeitet und schliesslich mit wenigen Helikoptertransporten hochgeflogen werden. Und zeigen die Ecken der Bestandsbauten traditionelle Eckvorstösse «Gweete», sind jene des Turms durch eine reduziertere Eckverbindung mit bündiger Überblattung ausgebildet. Die Fensteröffnungen sind unterschiedlich gross und quadratisch, deren unregelmässige Anordnung verstärkt die monolithische Erscheinung des Baukörpers. Der Holzblock steht auf einem zum Geländeverlauf abgestuften, minimal dimensionierten Betonsockel. Dessen Stärke entspricht mit lediglich zwölf Zentimetern jener der Strickwand. Anstelle einer Betonbodenplatte wurde der Fussboden im Erdgeschoss in Stampflehm ausgeführt.

Realisierung

Eine erhebliche Herausforderung stellten die erforderlichen Massnahmen im Hinblick auf Naturgefahren dar. So musste zum Schutz gegen Murgang ein Erddamm errichtet werden, dieser sollte möglichst organisch in die Topografie integriert werden. Und um der Einwirkung von Staublawinen bei Abgängen von grossen Schneemassen auf der gegenüberliegenden Talseite standzuhalten, wurden an den vier Turmecken Metallstangen gespannt, welche den Holzkörper mit dem Sockel befestigen, um im Falle einer Lawine das Kippen des Turms zu verhindern.

Besonderheiten

Mit deutlich über 4000 Übernachtungen im Jahr gehört die Chamanna Cluozza zu einer der meistfrequentierten Hütten im Alpenraum. Die Erneuerung der Energieversorgung, die vornehmlich autark über ein Kleinstwasserkraftwerk und eine Fotovoltaikanlage erfolgt, gehörte ebenfalls zum Erweiterungsprojekt. Die alte Turbine im nahen Bach wurde durch ein leistungsfähigeres Aggregat ersetzt und eine Fotovoltaikanlage bestückt das Turmdach. Um die Energiebilanz nicht zu beeinträchtigen, wurde eine Kläranlage errichtet, die ohne Strom auskommt. Die Abwasserreinigung erfolgt vor Ort mit Wurmkompost und einem pflanzenbesetzten Klärbecken. Der Gedanke der Nachhaltigkeit sollte überdies auch beim Betrieb und bei der Bewirtung im Zentrum stehen. Im Angebot stehen hausgemachte Getränke und Speisen aus der Region. Weitere wichtige Anforderungen des Bauprojekts bestanden in der Harmonisierung des Aussenraums und der Renaturierung der Umgebung. Die intensive Abnutzung durch Tritt und frühere Bautätigkeiten hatten über die Jahre Spuren auf dem empfindlichen Waldboden hinterlassen. Es wurden Massnahmen getroffen, um den ursprüngliche Charakter der Umgebung wiederherzustellen. So wurde die natürliche Vegetation wieder etabliert. Die Samen für die Begrünung der Umgebung stammen aus einer speziell dafür in der Nähe angelegten Einzäunung. Wichtig als Initialvegetation war das Einpflanzen von Vegetationssoden aus dem näheren Waldbereich. Als augenfälliges Element der Umgebungsgestaltung sorgt schliesslich die neue Pflästerung aus dem nahe gelegenen Fluss gesammelten Natursteinen im Vorbereiche der Chamanna für einen natürlichen Übergang zur Landschaft.

Der Text wurde von den Architekt*innen im Zusammenhang mit der Einreichung des Projektes für den Arc Award 2023 verfasst.

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