Archisatire – a Counter-History of Architecture
Wie lässt sich Architektur über Satire verstehen? Die Ausstellung Archisatire im Teatro dell’architettura Mendrisio stellt diese Frage ins Zentrum und öffnet zugleich eine Perspektive, die im Architekturdiskurs kaum vorkommt: die satirische Gegenlesung der gebauten Umwelt. Kurator Gabriele Neri bringt Karikatur, Ironie und Groteske in einen Raum, der sonst Ernsthaftigkeit einfordert – und zeigt, wie treffsicher visuelle Satire seit Jahrhunderten auf architektonische Spannungsfelder reagiert.

Blick in die Präsentation historischer Drucke und grafischer Satiren | Foto: Enrico Cano
Satire als Gegenlesung der Architektur
Seit der Frühen Neuzeit begleiten Bildmedien in Zeitungen und Magazinen Stadtumbauten und Bautypologien – oft in satirischer Form und auf schnelle Verbreitung ausgerichtet. Neri liest sie nicht als Randnotiz, sondern als Form der Architekturkritik: Sie entlarven politische Interessen, überzogene Fortschrittsversprechen und ästhetische Moden. Vor allem aber zeigen sie, wie stark bauliche Eingriffe das tägliche Leben prägen – ein Aspekt, den klassische Historiografien häufig ausblenden.

Illustrationen, Drucke und satirische Architekturdarstellungen aus der Bibliothek der Accademia | Foto: Enrico Cano
Vier Wege durch die satirische Architekturgeschichte
Die Ausstellung gliedert sich in vier Kapitel, die jeweils einen eigenen Zugang zur satirischen Betrachtung von Architektur öffnen:
The Architect in Caricature Dieses Kapitel zeigt, wie das Bild des Architekt*innen zwischen Verehrung und Spott schwankt. Porträts aus Renaissance-Traktaten, frühe Allegorien und Beispiele aus der Popkultur – etwa der Film The Fountainhead (1949), der den Architekten als kompromisslosen Einzelhelden inszeniert – machen sichtbar, wie Karikaturen diese Figur immer wieder infrage stellen.
Urban Scandals Hier treten städtebauliche Zäsuren ins Zentrum. Satirische Illustrationen und filmische Kommentare begleiten die heftigen Debatten um provokative Bauten – vom Crystal Palace und dem Looshaus bis zu Guggenheim New York und dem Centre Pompidou. Die Beispiele veranschaulichen, wie architektonische Innovation oft zuerst Widerstand und Irritation erzeugt.
The Irrational House Das Wohnhaus erscheint als besonders anfällige Bühne für Überzeichnung. Vom rationalen Bauhaus-Modell über die Serienwohnung bis zu Jacques Tatis Villa Arpel (im Film Mon Oncle, 1958, eine satirisch überzeichnete, moderne, aber völlig unlebbar gestaltete Muster-Villa) zeigt das Kapitel ein Panorama an Haltungen, in denen neue Wohnformen Anlass für Ironie, Skepsis oder offenes Gelächter bieten.
Caricatures of the Architect Im letzten Kapitel rückt die Ausstellung jene Architekt*innen in den Fokus, die selbst zeichnerisch arbeiten. Unter dem Titel Caricatures of the Architect zeigen ihre Karikaturen und Grotesken den Beruf im Spiegel der eigenen Hand – teils als scharf zugespitzte Selbstkritik, teils als spielerische Flucht aus den Routinen und Zumutungen des Planungsalltags.

Die Ausstellung rückt historische und zeitgenössische Zeichnungen ins Zentrum, die Architektur über Ironie, Verzerrung und Überzeichnung befragen. | Foto: Enrico Cano
Die Bühne des Wohnens
Zu sehen sind Illustrationen, Fotografien, Filme, Modelle, Plakate und historische Drucke aus der Bibliothek der Accademia. Die Spannweite der vertretenen Autor*innen reicht von William Hogarth (1697–1764, britischer Satiriker und grafischer Chronist des städtischen Lebens) und Honoré Daumier (1808–1879, französischer Karikaturist und scharfer Beobachter des Bürgertums) über Saul Steinberg (1914–1999, US-amerikanischer Zeichner und ironischer Kommentator moderner Alltags- und Architekturwelten) bis zu Alessandro Mendini (1931–2019, italienischer Designer und Theoretiker des postmodernen Dekors) und Ugo La Pietra (geb. 1938, italienischer Architekt und radikaler Designkritiker, bekannt für die Analyse des Verhältnisses zwischen Wohnen und Stadt). Filmische Beiträge – darunter Buster Keatons One Week (1920, Slapstick-Demontage des idealisierten Eigenheims), Jacques Tatis Mon Oncle (1958, Satire auf das hypermoderne Wohnideal) und Playtime (1967, Grossstadtkritik im totalen Modernisierungsmodus) sowie Koolhaas Houselife (2008, Blick hinter die Hochglanzfassade zeitgenössischer Architektur) – erweitern den Blick vom Einzelbild zum bewegten Kommentar.
Raum als Denkfigur
Archisatire versteht Satire nicht als Randphänomen, sondern als kritisches Werkzeug. Die Schau verschiebt damit den Blick auf Architekturgeschichte: Weg von linearen Erzählungen, hin zu Brüchen, Reibungen und Missverständnissen. Wer die Ausstellung besucht, sieht nicht nur historische Stadtumbrüche und ikonische Bauten neu, sondern auch die Handlungsmacht visueller Kritik. Entwerfen und Bewohnen erscheinen als gesellschaftliche Prozesse, in denen Humor und Ironie mehr offenlegen, als ihr leichter Ton vermuten lässt. Begleitend erscheint Neris Buch Satira dell’architetto bei Mendrisio Academy Press und Edizioni Casagrande.

Die Figur trägt im Bauch einen Stadt- und Grundrissplan als sichtbare Überfüllung rationaler Ordnung. Mino Maccari, Un’indigestione di Razionale, «Il Selvaggio», 15 agosto / August 1936 | Illustration © Courtesy Eredi Mino Maccari
Teatro dell’architettura Mendrisio
Archisatire – a Counter-History of Architecture
Ausstellung: Bis 29. März 2026
Ort: Via Turconi 25, Mendrisio
Öffnungszeiten: Do bis Fr 14–18 Uhr, Sa bis So 10–18 Uhr



