Marina Abramović – Eindrücke aus einer Retrospektive der Extreme

 

Veröffentlicht am 12. Dezember 2024 von
Nina Farhumand

Das Kunsthaus Zürich zeigt bis 16. Februar 2025 die erste grosse Retrospektive von Marina Abramović in der Schweiz. Ein Ereignis, das auch unsere Redaktion intensiv erlebt hat. Mit Werken aus allen Schaffensperioden, live reinszenierten Performances und einer neuen, speziell für Zürich entwickelten Arbeit zieht die Ausstellung das Publikum in ihren Bann. Abramovićs «Long-durational Performances» testen die Grenzen von Körper und Geist und stellen die Frage: Wie verändert Kunst, die Schmerz, Scham und Intensität ins Zentrum rückt, unseren Blick auf uns selbst? Die Reaktionen sind vielfältig: Von Begeisterung über Unbehagen bis hin zu Sprachlosigkeit – wie weit kann Kunst gehen, um uns wirklich zu berühren?

Marina Abramović, «The Message», 2024, Edition für das Kunsthaus Zürich © Marina Abramović; Foto: Michel Comte

Marina Abramović, «The Message», 2024, Edition für das Kunsthaus Zürich © Marina Abramović; Foto: Michel Comte

Marina Abramović, «The Message», 2024, Edition für das Kunsthaus Zürich © Marina Abramović; Foto: Michel Comte

Die serbische Künstlerin Marina Abramović gilt als eine der einflussreichsten Performancekünstlerinnen der Gegenwart. Bekannt als die «Grossmutter der Performancekunst» setzt sie sich in ihren kompromisslosen Werken mit Themen wie den Grenzen von Körper und Geist, Intimität sowie der Beziehung zwischen Künstler*in und Publikum auseinander. Mit ikonischen Performances wie «Rhythm 0» (1974) und «The Artist is Present» (2010) hat sie die Kunstwelt nachhaltig beeinflusst und neue Massstäbe gesetzt. Ein charakteristisches Merkmal ihrer Arbeit sind Langzeitperformances. Der Fokus ihrer neuen Projekte liegt zunehmend auf mentaler Transformation und spiritueller Erfahrung.

Performance «Imponderabilia» | Ausstellungsansicht Kunsthaus Zürich, 2024 | Foto: Franca Candrian, Kunsthaus Zürich, Werke: © courtesy of the Marina Abramović Archives / 2024, ProLitteris, Zürich

Performance «Imponderabilia» | Ausstellungsansicht Kunsthaus Zürich, 2024 | Foto: Franca Candrian, Kunsthaus Zürich, Werke: © courtesy of the Marina Abramović Archives / 2024, ProLitteris, Zürich

Performance «Imponderabilia» | Ausstellungsansicht Kunsthaus Zürich, 2024 | Foto: Franca Candrian, Kunsthaus Zürich, Werke: © courtesy of the Marina Abramović Archives / 2024, ProLitteris, Zürich

Die legendäre Performance «Imponderabilia» von Marina Abramović und Ulay aus dem Jahr 1977 wird derzeit im Kunsthaus Zürich neu interpretiert – und unsere Redaktion war live dabei, um dieses eindringliche Erlebnis mitzuerleben. Ursprünglich in Bologna uraufgeführt, stellt das Werk die Besucher*innen vor eine einzigartige Herausforderung: Zwei nackte Performer*innen stehen sich in einem engen Durchgang gegenüber – der einzige Weg, um in die Ausstellung zu gelangen. Das Publikum wird aufgefordert, bewusst zu entscheiden, wie es durch die schmale Passage navigiert und dabei unmittelbar mit Fragen nach Körperlichkeit, Intimität und sozialer Norm konfrontiert. Die Atmosphäre vor Ort war elektrisierend: Einige Besucher*innen zögerten, andere gingen schnell hindurch, doch niemand blieb unberührt. Mit dieser Neuinszenierung greift das Kunsthaus ein Werk der Performancekunst auf und lädt zur Reflexion über persönliche Grenzen und gesellschaftliche Konventionen ein. Ein Erlebnis, das Kunst und Publikum verbindet.

Ausstellungsansicht Kunsthaus Zürich, 2024 | Foto: Franca Candrian, Kunsthaus Zürich, Werke: © courtesy of the Marina Abramović Archives / 2024, ProLitteris, Zürich

Ausstellungsansicht Kunsthaus Zürich, 2024 | Foto: Franca Candrian, Kunsthaus Zürich, Werke: © courtesy of the Marina Abramović Archives / 2024, ProLitteris, Zürich

Ausstellungsansicht Kunsthaus Zürich, 2024 | Foto: Franca Candrian, Kunsthaus Zürich, Werke: © courtesy of the Marina Abramović Archives / 2024, ProLitteris, Zürich
Ausstellungsansicht Kunsthaus Zürich, 2024 | Foto: Franca Candrian, Kunsthaus Zürich, Werke: © courtesy of the Marina Abramović Archives / 2024, ProLitteris, Zürich
| Foto: Nina Farhumand

Die Ausstellung im Kunsthaus Zürich wurde in Zusammenarbeit mit der Royal Academy of Arts in London kuratiert. Ein zentrales Thema der Retrospektive ist die Interaktion zwischen Abramović und den Besucher*innen. Über die gesamte Ausstellung hinweg gibt es immer wieder Partizipationsmöglichkeiten – ein Beispiel dafür ist «Decompression Chamber», das Abramović speziell für das Kunsthaus Zürich entwickelt hat. Es lädt dazu ein, in Stille innezuhalten und zu «de-komprimieren». Achtsamkeit und Entschleunigung stehen dabei im Vordergrund. Während unseres Besuchs hatten wir die Gelegenheit, nicht nur Werke aus verschiedenen Zeiten zu sehen, sondern auch Live-Reinszenierungen ihrer Performances vor Ort zu erleben. Unsere Reflexionen über die Arbeiten basieren auf den Eindrücken und Beobachtungen aus der Ausstellung.

Performance «Balkan Baroque» | Ausstellungsansicht Kunsthaus Zürich, 2024 | Foto: Franca Candrian, Kunsthaus Zürich, Werke: © courtesy of the Marina Abramović Archives / 2024, ProLitteris, Zürich

Performance «Balkan Baroque» | Ausstellungsansicht Kunsthaus Zürich, 2024 | Foto: Franca Candrian, Kunsthaus Zürich, Werke: © courtesy of the Marina Abramović Archives / 2024, ProLitteris, Zürich

Performance «Balkan Baroque» | Ausstellungsansicht Kunsthaus Zürich, 2024 | Foto: Franca Candrian, Kunsthaus Zürich, Werke: © courtesy of the Marina Abramović Archives / 2024, ProLitteris, Zürich
Blutige Knochen symbolisieren die Opfer. Einen persönlicher Bezug bringt die Videoinstallation, die Abramović zwischen ihren Eltern zeigt.
| Fotos: Nina Farhumand

Balkan Baroque: Eine Performance über den Schmerz der Heimat

Wir waren besonders beeindruckt von einer früheren Performance von Marina Abramović, die in Form einer Videoinstallation gezeigt wurde. Marina Abramovićs «Balkan Baroque» wurde 1997 auf der Kunstbiennale in Venedig gezeigt und gehört zu einer Reflexionen über ihre Heimat. Die Performance entstand als Reaktion auf den blutigen Konflikt auf dem Balkan, der 1991 mit dem Zerfall Jugoslawiens begann. Abramović führte einen symbolischen rituellen Versuch der Reinigung durch, um mit den Schrecken des Krieges umzugehen. Sie verbrachte vier Tage lang täglich sechs Stunden auf einem Berg aus frischen, teils blutigen Rinderknochen. Mit Wasser und einer Bürste reinigte sie die Knochen von Fleischresten, während sie Volkslieder aus ihrer Kindheit sang. Die Performance vermittelt aus unserer Sicht die Vergeblichkeit, die Wunden eines Krieges vollständig heilen zu können, und stellt ein universelles Symbol für menschliches Leid dar.

Die dreiteilige Videoinstallation zeigt Abramović, umrahmt von ihren Eltern. In einem weissen Laborkittel erzählt sie die Geschichte der «Wolfsratte», die ihre eigenen Artgenossen frisst. Diese Erzählung könnte den Zerfall der Gesellschaften auf dem Balkan während des Krieges widerspiegeln, in dem Nachbarn zu Feinden wurden und kollektive Identitäten zerbrachen. Zum Abschluss tanzt Abramović einen ungarischen Csárdás. Die Themen von Gewalt und Erotik durchziehen auch dieses Werk und verstärken die eindringliche Bildsprache.

Ulay und Marina Abramović, Performance «Light Dark», 1978

Ulay und Marina Abramović, Performance «Light Dark», 1978

Ulay und Marina Abramović, Performance «Light Dark», 1978
Performances zum Mitmachen «Counting the Rice»
| Fotos: Nina Farhumand
Live-Re-Performance «Art Must be Beautiful |Artist Must be Beautiful» im Kunsthaus Zürich | Video: Nina Farhumand

Performances in der Ausstellung

«Art Must be Beautiful |Artist Must be Beautiful» (1975) zeigt eine Performerin, die abwechselnd mit einer Bürste und einen Kamm aggressiv ihr Haar kämmt. Sie wiederholt dabei mantramässig den Satz «art must be beautiful, artist must be beautiful.

«Imponderabilia» (1977) – Am Eingang der Ausstellung stehen zwei nackte Menschen gegenüber, die Besuchenden müssen zwischen den beiden hindurch. Der Akt des Vorbeigehens wird somit zu einer unmittelbaren körperlichen Erfahrung, die sowohl als Kunstwerk als auch als soziales Experiment verstanden werden kann.

«Counting the Rice» (2014) – Die «Abramović-Methode» ist eine Erforschung der Präsenz in Raum und Zeit. Sie besteht aus verschiedenen Übungen, die helfen, den Willen und die Fähigkeit zu stärken. «Counting the Rice» ist eine davon. Das Publikum wird aufgefordert, die Linsen vom Reis zu trennen und zu zählen.

«Luminosity» (1997) – In dieser Performance sitzt eine nackte Performerin mit erhobenen Armen auf einem Fahrradsattel, der an der Wand montiert ist. Die Szene wirkt zugleich intim und kraftvoll, als würde die Künstlerin in einer Balance zwischen Verletzlichkeit und Selbstbehauptung verharren. Ihre Körperhaltung, die durch die ungewöhnliche Position des Fahrradsattels verstärkt wird, spielt mit den Themen von Kontrolle und Schmerz.

«Decompression Chamber» (2024) – Bei dieser Performance handelt es sich um ein interaktives Erlebnis, bei dem das Publikum aktiv teilnehmen kann. Die «Decompression Chamber» ist eine Art meditativer Raum, der dazu einlädt, den Alltag hinter sich zu lassen und in eine tiefere Ebene der Wahrnehmung einzutauchen.

Kunsthaus Zürich

Marina Abramović. Retrospektive

Ausstellung: Bis 16. Februar 2025

Ort: Heimplatz, Zürich

Öffnungszeiten: Di, Mi, Fr 10–18 Uhr, Do 10–20 Uhr, Sa 11–17 Uhr

Weitere Informationen
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