Scheidegger Keller etablieren Verdichtung als lustvolle Kunstform

Veröffentlicht am 24. Juni 2025 von
Daniela Meyer

Wohnen auf wenig Raum muss nicht zwangsläufig einen Verlust an Wohnqualität bedeuten. Das beweisen Scheidegger Keller mit dem Quirky House in Zürich. Obwohl dessen sieben Wohnungen für heutige Verhältnisse kleine Flächen aufweisen, wirken sie grosszügig und bieten eine Vielzahl räumlicher Erlebnisse.

Die klassische Gebäudeform kontrastiert mit den industriellen Materialien von Fassade und Dach. Die Schindeln bestehen aus unbehandeltem Faserzement; das Schrägdach ist mit Bitumen abgedeckt. | Foto: Karin Gauch & Fabien Schwartz

Die klassische Gebäudeform kontrastiert mit den industriellen Materialien von Fassade und Dach. Die Schindeln bestehen aus unbehandeltem Faserzement; das Schrägdach ist mit Bitumen abgedeckt. | Foto: Karin Gauch & Fabien Schwartz

Die klassische Gebäudeform kontrastiert mit den industriellen Materialien von Fassade und Dach. Die Schindeln bestehen aus unbehandeltem Faserzement; das Schrägdach ist mit Bitumen abgedeckt. | Foto: Karin Gauch & Fabien Schwartz

Verdichtung ist zur Maxime geworden, um den Flächenverbrauch durch Architektur zu verlangsamen. Doch wird damit das Bauen zugleich auch nachhaltiger? Nur begrenzt: Es wird zwar breiter, höher und tiefer gebaut, aber deswegen wohnen nicht mehr Leute auf dem zur Verfügung stehenden Land. Denn parallel dazu wächst der Wohnflächenkonsum pro Kopf in der Schweiz stetig an. 2023 betrug der Durchschnitt über 46 Quadratmeter. Ohne wirtschaftliche Not in eine kleinere Wohnung zu ziehen, um die CO2-Emissionen und den Landverbrauch zu senken, fällt den meisten Leuten schwer. Das dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass Bauherrschaften und Architekturschaffende in den letzten Jahren nicht auf das Schaffen von Wohnraum, der gleichzeitig kompakt und qualitätsvoll ist, fokussiert haben.

Erd- und 1. Obergeschoss | Plan: Atelier Scheidegger Keller
Dachgeschoss | Plan: Atelier Scheidegger Keller
2. Untergeschoss | Plan: Atelier Scheidegger Keller
1. Untergeschoss | Plan: Atelier Scheidegger Keller

Fenster als Gestaltungsmittel

Christian Scheidegger und Jürg Keller machen keinen Hehl daraus, dass ihr neuester Wohnbau in Zürich-Höngg die gel­tenden Baugesetze, insbesondere die Abstandsvorschriften, abbildet, da er sich zugunsten einer maximalen Ausnützung bis an die Parzellengrenzen ausdehnt. «Bei kleinen Grundstücken erweisen sich die vielen Vorgaben oft als entwerferische Herausforderung», sind sie sich einig. Das Resultat ist ein eigenwilliges Gebäude – ein «Quirky House», wie sie es nennen. In ein silbergraues Schuppenkleid gehüllt, thront es über einer Quartiersstrasse. Die Giebelseite zur Strasse gerichtet, schreibt es die vorhandene Bebauungsstruktur weiter, wobei es sich mit Erkern und Balkonen neugierig nach allen Seiten streckt. Die meisten Fensterfelder haben die gleichen Abmessungen wie bei den Nachbarbauten, reichen jedoch auch mal bis zum Boden oder reihen sich zu einem Band. Das Spiel der unterschiedlich proportionierten Öffnungen gibt dem Haus von aussen betrachtet einen starken Charakter.

Mit seiner Giebelständigkeit und dem Volumen passt sich das Haus in den Kontext ein; hat aber mit den zahlreichen Erkern zugleich einen eigenständigen Charakter. | Foto: Karin Gauch & Fabien Schwartz

Mit seiner Giebelständigkeit und dem Volumen passt sich das Haus in den Kontext ein; hat aber mit den zahlreichen Erkern zugleich einen eigenständigen Charakter. | Foto: Karin Gauch & Fabien Schwartz

Mit seiner Giebelständigkeit und dem Volumen passt sich das Haus in den Kontext ein; hat aber mit den zahlreichen Erkern zugleich einen eigenständigen Charakter. | Foto: Karin Gauch & Fabien Schwartz

Die Fenster spielen auch im Innern eine zentrale Rolle. Sorgfältig auf den Massstab der jeweiligen Räume abgestimmt, dienen sie deren Zonierung. Gleichzeitig dehnen sie den Raum maximal aus, da sie möglichst weit aussen an der Fassade angeschlagen sind. Für Christian Scheidegger ist klar: «Die Fassade und die Fenster bilden den Raum mit und setzen ihn in Bezug zum Tageslicht und zur Aussicht.» Eine Öffnung im Standardformat wirkt in einem kleinen Raum plötzlich gross, eine raumhohe Fensterfläche kann für ein Gefühl von Weite sorgen, das sich im Grundriss nicht erahnen lässt. Vielerorts begleiten Brüstungen die Fenster und bilden Ablageflächen, die von den Mietenden rege genutzt werden.

Langschnitt | Plan: Atelier Scheidegger Keller
Situation | Plan: Atelier Scheidegger Keller

Inszeniertes Wohnerlebnis

Den Weg durch die Wohnungen haben sich die beiden Architekten als Kamerafahrt vorgestellt, als Abfolge verschiedener Szenen. Bei den westseitigen 3,5-Zimmer-Wohnungen im Erd- und Obergeschoss liegt der Eingangsbereich in der Mitte der gestreckten Einheit und wird durch die hervorstossende Ecke des Schlafzimmers begrenzt. Geht man um diese herum, kommt man in den nach Süden orientierten Wohnbereich, der aufgrund eines Fensterbandes grosszügig wirkt. Es gibt den Blick auf hohe Kiefern frei, die das einfallende Licht filtern. Ganz im Süden mündet der Raum in einen dreiseitig verglasten Erker. Von dort kann das Auge über die Skyline der Stadt bis zum Zürichsee und in die Glarner Alpen schweifen. Die Bewohner*innen haben vor der Fensterbrüstung ein Sofa aufgestellt. Es lädt dazu ein, sich niederzulassen und dem Raum zuzuwenden, der sich von dort betrachtet geborgen anfühlt. Um ans andere Ende der etwa 20 Meter langen Wohnung zu gelangen, kann man zurück durch den Eingangsbereich, oder der Fassade entlang durch das Schlafzimmer gehen und kommt so in den Küchenbereich. Ein ausgedrehter Balkon ragt mit einer Ecke in den grünen Siedlungsraum und belichtet sowohl den Schlafbereich wie die Küche. Von der Küche aus erreicht man ein zweites Zimmer, das wiederum einen Erker hat. Die 3,5 Räume finden auf gerade einmal 66 Quadratmetern Platz.

Wohnung im Erd- und 1. Obergeschoss – Blick von der Küche aus. | Foto: Vic & Chris

Wohnung im Erd- und 1. Obergeschoss – Blick von der Küche aus. | Foto: Vic & Chris

Wohnung im Erd- und 1. Obergeschoss – Blick von der Küche aus. | Foto: Vic & Chris

Die benachbarte Wohnung, die sich entlang der östlichen Fassade erstreckt, ist zwar ähnlich gross, hat aber eine ganz andere Raumkonfiguration.

Während die Einheiten im Erdgeschoss in der Disposition denen im 1. Obergeschoss entsprechen, mutet die 2,5-Zimmer-Wohnung in der südlichen Hälfte des Untergeschosses gänzlich anders und geradezu konventionell an. Doch auch dort wird der Wohn- und Essraum durch unterschiedliche Fensterformate belebt.

Und unter dem Giebeldach wiederum gibt es zwei loftartige Wohnungen, die jeweils aus einem einzigen gestreckten, mäandrierenden Raum bestehen.

Klar ist: Die Freude am Entwerfen liess sich das Architektenduo durch die vielen Vorgaben nicht nehmen. «Im Gegensatz zu anderen Bautypen bietet der Wohnungsbau noch immer grosse Freiheiten, da die Nutzung nicht genau definiert, wie ein Raum auszusehen hat», so Christian Scheidegger. «Im Quirky House haben wir nicht das Zimmer als kleinste räumliche Einheit betrachtet, sondern die vielen Mini-Räume und Nischen, die sich darin bilden können.» Auf den kleinen Massstab des Hauses reagieren die beiden mit einer klein­teiligen Gestaltung, wodurch die Räume reichhaltig und gross wirken. «Die Suche nach Grosszügigkeit prägt dieses Haus besonders, weil es sich um die bisher kleinsten Wohnungen handelt, die wir entworfen haben», ergänzt Jürg Keller. Dies hat auch die Materialwahl beeinflusst: Die Aussenwände bestehen aus einer kompakten Holzkonstruktion und sind im Innern – genauso wie die Leichtbauwände – mit dünnem Birkensperrholz beplankt. Sie erinnern an Schiffskojen und erzeugen zusammen mit dem terrakottafarbenen Linoleumboden ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit.

Bei den beiden ostseitigen Wohnungen im Erd- und ersten Obergeschoss schliesst jeweils ein Zimmer an den Wohnbereich an. | Foto: Vic & Chris
Die Raumverkettungen machen die Benützung der Wohnung dynamisch. | Foto: Vic & Chris

Ökonomischer Umgang mit Raum

In den insgesamt sieben Wohnungen leben derzeit 13 Personen. Gemäss den Belegungsvorschriften der gemeinnützigen Stiftung PWG, in deren Auftrag das Quirky House entstanden ist, müssen es mindestens 11 sein. Bei der Mindestbelegung verfügt jeder über durchschnittlich 39 Quadratmeter Wohnfläche. Unter den Erstmietenden ist auch ein Paar, das zuvor in einer deutlich grösseren Wohnung zu Hause war. Die vielfältigen Ausblicke und der gemütliche Charakter der neuen Bleibe – so erzählten sie bei der Besichtigung – haben ihnen den Umzug und die Wohnflächenreduktion erleichtert. «Vielleicht ist die Zeit reif, auch in räumlicher Hinsicht wieder ökonomisch zu handeln», meint Keller dazu. «Allerdings erfordert dies seitens der Bauherrschaften eine gewisse Flexibilität in Bezug auf das Raumprogramm.» Die PWG hat sich nicht nur diesbezüglich flexibel gezeigt, sondern auch hinsichtlich der reichhaltigen Gestaltungsansätze der Architekt*innen.

Dem Haus ist von aussen nicht anzu­sehen, dass gewisse Vor- und Rücksprünge aus baurechtlichen Vorgaben resultieren, da sie geschickt ins Gesamtbild integriert worden sind. Zudem verpassen die kleinteiligen und dünnen Eternit-Schindeln der Fassade ein homogenes Kleid.

Die Raumdispositionen etablieren einen Zickzack-Parcours. | Foto: Vic & Chris

Die Raumdispositionen etablieren einen Zickzack-Parcours. | Foto: Vic & Chris

Die Raumdispositionen etablieren einen Zickzack-Parcours. | Foto: Vic & Chris

Die Verquickung von Kubatur und lebhaften Innenräumen findet sich auch bei anderen Wohnbauprojekten des Ateliers Scheidegger Keller, das sich schon mehrfach mit der Frage beschäftigt hat, wie Wohnen auf wenig Raum vielfältig gestaltet werden kann. Häufig prägen polygonale Formen die Grundrisse ihrer Häuser. Nach Korridoren sucht man dabei vergebens; ein Raum folgt direkt auf den nächsten, oder er dehnt sich als Kontinuum in verschiedene Richtungen aus. An der Ackersteinstrasse führt dies zu einer ungewohnten Intensität. «In kleinen Häusern rückt alles näher zusammen – Raumfolgen, Möbel und Menschen», so Scheidegger. Oder mit anderen Worten gesagt: In einem solchen Haus findet tatsächlich eine Verdichtung statt. Clever organisiert und bewusst inszeniert, kann diese – das beweist das Quirky House – zur Steigerung der Wohnqualität beitragen.

Weil die Wohnungen lang und schmal sind, werden alle Zimmer grosszügig von Tageslicht durchflutet. | Foto: Vic & Chris

Weil die Wohnungen lang und schmal sind, werden alle Zimmer grosszügig von Tageslicht durchflutet. | Foto: Vic & Chris

Weil die Wohnungen lang und schmal sind, werden alle Zimmer grosszügig von Tageslicht durchflutet. | Foto: Vic & Chris

Der Text wurde von Daniela Meyer für das Swiss Arc Mag 2025–3/4 verfasst.

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