Tor Alva – Weisser Turm von Mulegns
,
Schweiz
Veröffentlicht am 16. Juni 2025
ETH Zürich - Institute of Technology in Architecture BLOCK Research Group + ETH Zurich Digital Building Technologies + Anja Diener c/o Nova Fundaziun Origen
Teilnahme am Swiss Arc Award 2025
Projektdaten
Basisdaten
Gebäudedaten nach SIA 416
Beschreibung
Die organische Architektur des 21. Jahrhunderts
Der Weisse Turm spinnt die Geschichte der Zuckerbäcker weiter. Was würde ein vom Heimweh getriebener Konditor im 21. Jahrhundert bauen? Ein romantisches Bauernhaus? Eine minimalistische Villa? Oder ein fantastisches, von Robotern gebautes organisches Gebäude? Die Kulturstiftung Nova Fundaziun Origen hat sich für letzteres entschieden. Die ETH Zürich trug Know-how und Planung bei und hat die Säulen gedruckt. Bündner Baufirmen und Ingenieurbüros realisierten den Turm. Origen unter Federführung von Giovanni Netzer übernahm die Bauherrschaft.
Wirkung
Die Zusammenarbeit der Nova Fundaziun Origen, der ETH Zürich und den Industriepartnern entfaltet breite volkswirtschaftliche, technologische und architektonische Wirkungen. Der Weisse Turm verwirklicht die marktreifen Innovationen der weltweit führenden Forschung im höchsten digital gedruckten Bauwerk der Welt. Diese Pionierleistung demonstriert die Möglichkeiten der 3D-Druckweise für das Bauen, die Architektur und die Umwelt: Es zeigt, wie sicheres, ökonomisches und ökologisches Bauen durch massive Reduktion des Materialbedarfes und der CO2-Emissionen möglich ist und wie das Bauen modular, zirkulär und skalierbar werden kann. Es erlaubt in Zukunft neue Verbindungen von Kunsthandwerk und Technik. Als Teil eines Gesamtkonzeptes trägt der Weisse Turm zur Belebung des von Abwanderung betroffenen Bergdorfes Mulegns bei, fördert einen sanften Tourismus in der Region, profiliert den Kanton Graubünden und die Schweiz architektonisch und kulturell und stimuliert einen regionalen und nationalen Wissenstransfer. Die Realisierung der marktreifen Spitzenforschung leistet einen wesentlichen Beitrag zum globalen Durchbruch dieser neuartigen digitalen und ressourcenschonenden Bauweise und Architektur.
Digitales Kunsthandwerk
Der Weisse Turm von Mulegns wurde auf der historischen Fuhrhalterei des Posthotels Löwe errichtet. Das neue Gebäude hat insgesamt sechs Stockwerke, die mit der Höhe immer lichter werden. Im Winter kann der Turm mit einer demontierbaren Membran vor Wind und Schnee geschützt werden. In der Dämmerung erscheint der Turm mit seinen eigenwilligen Öffnungen wie eine Laterne und wird zu einem Leuchtturm auf der alten Julierpassroute.
Säulen als zentrales Gestaltungselement
Der Turm hat vier Stockwerken mit je acht Säulen. Das zentrale Gestaltungselement besteht aus einer Serie von 32 verzweigten Säulen, die mit dem 3D-Druckverfahren hergestellt wurden und die verschiedenen Ebenen des Gebäudes tragen und zugleich seine Fassade bilden. In den unteren Zonen schaffen schwere, gedrungene Säulen enge, imposante Räume. Beim Aufstieg entlang der zentralen Wendeltreppe wird der Raum dann spürbar leichter und luftiger. Jede Säule ist zweifach verziert: mit einem horizontalen, durch das Betondruckverfahren abgeleiteten Materialornament und einer darüber liegenden spiralförmigen Textur, welche die Höhe des Gebäudes betont. Die hellen Materialien und die markanten Strukturen fördern das architektonische Spiel von Licht und Schatten.
Vielzahl an Funktionen
Der Weisse Turm beinhaltet eine ganze Reihe abstrakter, atmosphärisch dichter Räume, die übereinandergestapelt wurden und als vertikale Enfilade konzipiert sind. Es gibt darin keine konkreten Möbel, Betten oder Stühle, sondern nur starke Atmosphären. Die unterschiedlichen Strukturen ermöglichen starke räumliche Erlebnisse und werden durch die Einheit des Materials zusammengehalten. Insgesamt wirkt das Gebäude, das aus weissem Beton gefertigt wurde, filigran und organisch. Der hohe und lichte Theatersaal eröffnet einen grosszügigen Ausblick über die beeindruckende alpine Landschaft und das Dorf Mulegns. Die Dachkonstruktion besteht aus einem zentralen, gewölbten Dach und acht filigranen Kuppelträgern. Er bietet Platz für 32 Besucher*innen und lässt verschiedene kulturelle Nutzungen zu: Ausstellungen, Installationen, Konzerte, zeitgenössische Choreografien und andere performative Formate. In die Räume passen natürlich Zuckerbäckergeschichten. Sie können aber auch Dantes Divina Commedia oder die Reise des Kleinen Prinzen von Antoine de St. Exupéry mit starken Raumeindrücken illustrieren.
Symbolik
Als Hommage an die Bündner Zuckerbäcker wird die Bespielung des Turmes das Val Surses beleben und international ausstrahlen. Der Turmbau erzählt von der raffinierten Kunstfertigkeit und vom hartnäckigen Pioniergeist der Bündner Emigranten. Er erinnert auch an die Tragik und Ambivalenz des Emigrantendaseins. Viele Auswanderer sind in der Fremde verschollen, manche starben in Übersee oder gingen in der Anonymität der Städte unter. Wenigen gelang der wirtschaftliche Aufstieg. Eines verbindet sie alle: Wenn immer möglich, kehrten sie im Alter in die Heimat zurück. Nicht selten stellten sie ihr Wissen und Vermögen in den Dienst der Allgemeinheit, bauten Schulhäuser, Mühlen und Wasserleitungen zum Wohl der Daheimgebliebenen.
Der Weisse Turm erinnert auch an die Not der Emigranten, die einst ihr Heimatdorf verliessen, um ihr Brot in der Fremde zu verdienen. Heute sind die Bergdörfer erneut von den Folgen der Abwanderung betroffen. Die Turminstallation führt das Erbe der Zuckerbäcker und Baumeister weiter. Innovationsgeist und Experimentierfreude prägen den digital gefertigten Turm, der im Mai 2025 eröffnet wird.
Digitale Baukultur und Nachhaltigkeit
Das Bauen der Zukunft steht vor grossen Herausforderungen: Weltweit ist die Menschheit im Rahmen der Urbanisierung mit einem immens wachsenden Bedarf an Gebäuden konfrontiert. Dadurch wird es immer relevanter, nachhaltig und kostengünstig zu bauen. Die Antworten darauf können nur zusammen mit einer radikalen Digitalisierung von Architektur und Bauindustrie gefunden werden. Robotische additive Fertigung wie der 3D-Druck sind hierbei von grosser Bedeutung. Der Weisse Turm ist mit 30 Metern Höhe einschliesslich der Basis das höchste 3D-gedruckte Gebäude der Welt. Er demonstriert die Möglichkeiten der digitalen Bautechnologie und deren Potenzial, die Baubranche nachhaltig zu revolutionieren. Der Bau besticht durch einen sparsamen Umgang mit Ressourcen: Das digitale Druckverfahren senkt den Materialbedarf und kommt ohne Schalung aus. Die modulare Bauweise erlaubt ein einfaches Aufrichten und eine schnelle Demontage.
3D-Druck von Beton
Der Weisse Turm demonstriert die bahnbrechenden Möglichkeiten des computergestützten Designs und der digitalen Fertigung, die in den kommenden Jahren konventionelle Gebäude grundlegend verändern werden. Die digitale Fertigungstechnik verspricht eine substanzielle Innovation im Bauwesen. Im Vergleich zu herkömmlichen Methoden konnte der Turm günstiger und präziser gefertigt werden, weil zeitaufwendige, repetitive oder komplexe Arbeit durch Roboter erledigt wurde. Der Weisse Turm wurde mit einem 3D-Druckverfahren aus Beton hergestellt, das an der ETH Zürich entwickelt wurde. Bei diesem neuartigen Herstellungsverfahren trägt ein Roboter nacheinander dünne Schichten zähflüssigen Betons durch eine Düse auf. Das Material ist weich genug, um sich zu verbinden und homogene Komponenten zu bilden, härtet jedoch schnell genug aus, um die aufeinanderfolgenden Schichten zu stützen. Beim Weissen Turm wurde der gedruckte Beton erstmals als das alleinige tragende Element eingesetzt und die nötige Stahlbewehrung im robotischen Fertigungsprozess eingefügt – ein bedeutender Meilenstein in der Entwicklung des 3D-Drucks von Beton. Um die strukturelle Festigkeit zu gewährleisten, wurden die Säulen sowohl horizontal als auch vertikal mit Bewehrungsstahl verstärkt. Durch den Einsatz von robotergestützten Betonextrusionsverfahren kann der Beton gezielt nur dort aufgetragen werden, wo er benötigt wird. Dadurch wird der Materialverbrauch reduziert. In den dünnwandigen, hohlen Säulen des Turms wurde Beton dort eingesetzt, wo er strukturell benötigt wurde; ähnlich wie bei optimierten Strukturen, die wir aus der Natur kennen. Die Einsparung von Masse und Zement bedeutet eine Reduktion der CO²-Emissionen, die bei dessen Herstellung erzeugt wird.
Schalungsfreier Betonbau
Da der Beton beim 3D-Druck nicht gegossen, sondern von einem Roboter in extrudierten Bahnen aufgetragen wird, braucht es im Gegensatz zum herkömmlichen Betonbau keine Schalung. Dadurch eröffnen sich neue Freiheiten im Design hinsichtlich expressiver Formen, Oberflächendetails und Hohlräumen. Es ermöglicht auch eine kosteneffiziente Produktion von massgeschneiderten Bauteilen. Im Sinne der Kreislaufwirtschaft wird schon bei der Planung der Rückbau konzipiert. Die modulare Bauweise erlaubt einen einfachen Auf- und Abbau der einzelnen Bestandteile. Die Elemente werden trocken, also ohne Klebemittel, über Schrauben verbunden. Die Vorspannungen in ihnen sind eine weitere Strategie, das Material Beton effizient einzusetzen. Die horizontalen Bauteile, die sich nicht für den Betondruck eignen, werden durch ein neuartiges Verfahren hergestellt, bei dem 3D-gedruckter Schalungsbau mit Guss aus einem innovativen, nachhaltigen Beton verbunden wird.
Digitales Design
Alle Projektdaten werden in einem digitalen Zwilling gespeichert, der die Koordination, Simulation, Evaluation und Realisierung des Turms ermöglicht, ohne dass herkömmliche Baupläne benötigt werden. Erweiterte Realität, Virtual und Augmented Reality wurden sowohl in Entwurf und Ausführung intensiv verwendet. Digitale Technologien wurden auch im Designprozess eingesetzt. Die gesamte Struktur des Turms wurde mit benutzerdefinierter Software programmiert und entworfen, die eine präzise Definition der Geometrie ermöglicht und die erforderlichen Daten direkt an die Druckroboter senden kann. Diese Technologie erlaubt somit die effiziente Herstellung massgeschneiderter Elemente.
Projektbeteiligte
Der Weisse Turm entstand in enger Zusammenarbeit der Kulturstiftung Nova Fundaziun Origen mit der ETH Zürich, Conzett Bronzini Partner AG, Zindel United und der Uffer Gruppe. Die Architekten des Weissen Turmes sind Michael Hansmeyer und Prof. Benjamin Dillenburger der Abteilung für Digitale Bautechnologien (DBT) des Instituts für Technologie in Architektur der ETH Zürich. Im Rahmen der Projektentwicklung waren Studierende der ETH Zürich aktiv eingebunden. Darüber hinaus sind weitere ETH-Professuren des Nationalen Forschungsschwerpunktes Digitale Fabrikation in der Entwicklung beteiligt: Prof. Walter Kaufmann des Instituts für Baustatik und Konstruktion (CSBD) und Prof. Robert Flatt des Instituts für Baustoffe (PCBM). Das Bündner Ingenieurbüro Conzett Bronzini Partner AG ist insbesondere für die Statik des Bauwerkes verantwortlich. Die Bündner Bauunternehmen Zindel United und die Uffer Gruppe sowie die Bauherrin Nova Fundaziun Origen tragen die Verantwortung der Gesamtproduktion.
Das Projekt von der ETH Zürich und Nova Fundaziun Origen wurde für den Swiss Arc Award 2025 in der Kategorie Next Generation eingereicht und von Nina Farhumand publiziert.