«Campo» Winterthur – wo sich alles sammeln soll

 

Wissen

Veröffentlicht am 16. Mai 2024 von
Manuel Pestalozzi

Ein Bauprojekt, das Raum für Kunst, Büros, Werkstätten, innovatives Gewerbe und ein vielfältiges Wohnangebot zugleich bieten möchte – das gibt es nicht alle Tage. Am Eulachpark in Oberwinterthur will eine Stiftung unter dem Namen «campo» genau dies in die Realität umsetzen.

Der Hintergrund von «campo» ist verbunden mit einer Persönlichkeit, die mittlerweile die halbe Schweiz aus Medienberichten kennen muss: Bruno Stefanini (1924 – 2018). Der Sohn eines aus Italien eingewanderten Restaurantbetreibers gelangte durch den Erwerb von Immobilien zu grossem Reichtum. Er konnte sich dadurch eine leidenschaftliche Sammlertätigkeit leisten. Bei seinem Tod hinterliess Stefanini nicht nur Liegenschaften, sondern auch diverse Lagerstätten, in denen das sehr vielseitige, schwer überschaubare Sammelgut deponiert worden war.

Auf der Westseite geht der bestehende Bürobau direkt in den Neubau mit dem neuen Haupteingang über. | Visualisierung: Studio Burkhardt / Lucas Michael Architektur

Auf der Westseite geht der bestehende Bürobau direkt in den Neubau mit dem neuen Haupteingang über. | Visualisierung: Studio Burkhardt / Lucas Michael Architektur

Auf der Westseite geht der bestehende Bürobau direkt in den Neubau mit dem neuen Haupteingang über. | Visualisierung: Studio Burkhardt / Lucas Michael Architektur

Zentrum des Universums von Bruno Stefanini war stets seine Geburtsstadt Winterthur. Zum Vermächtnis gehört auch die 1980 von ihm hier gegründete Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte (SKKG). Gemäss der SKKG-Website charakterisiert sich die Stiftung durch ihre doppelte Kernaufgabe: die Sammlungs- und die Förderungstätigkeit. Beide Bereiche sind auf den Erhalt des Kulturerbes und auf die Teilhabe an ihm ausgerichtet. Das Kulturerbe sieht die SKKG als «der notwendige Kitt der diversen Gesellschaft». Bei zunehmender Pluralität und Mobilität sei es Grundlage für Demokratie, geteilte Werte und Toleranz. Durch Partizipationsmöglichkeiten im Kulturerbe will die Stiftung diese Werte vermitteln, pflegen und leben.

Kulturerbe im Fokus

2022 schrieb die SKKG einen Projektwettbewerb für ein Areal in Oberwinterhur aus. Es hat den Namen «campo» erhalten, gehört seit 2006 der SKKG und war zuletzt Standort der Firma Hexis, die sich der zukunftsträchtigen Festoxid-Brennstoffzellentechnik widmete. Hexis stellte 2020 den Betrieb ein, und für eine postindustrielle Zukunft des Areals öffneten sich neue Perspektiven.

Das Projekt «campo» soll künftig die SKKG-Sammlung an einem gemeinsamen Ort beherbergen, zusammen mit dem Sitz der SKKG, die hier ihrer Sammlungs- und Förderungstätigkeit nachgehen möchte, sowie der Tochterfirma Terresta, zuständig für die Immobilienbewirtschaftung. Die SKKG will einen «neuartigen Hub für die Zukunft des Kulturerbes» schaffen. Aber nicht nur das: Innovatives Kleingewerbe und ein Wohnangebot für unterschiedliche Lebensformen sollen «campo» zu einem «umfangreichen, komplexen, lebendigen Gesamtprojekt» ergänzen. Mit dieser Vision mussten sich die Wettbewerbsteams auseinandersetzen und Lösungsvorschläge unterbreiten. Unterstützung und Leitplanken lieferten die Resultate eines vorgängigen Testplanungsverfahrens mit drei interdisziplinär zusammengestellten Teams.

Hinter zwei Wohnhäusern an der Hegifeldstrasse steht das Bürogebäude mit dem angedockten Hallentrakt. Der Bestand war in die Planung einzubeziehen. | Foto © Goran Potkonjak

Hinter zwei Wohnhäusern an der Hegifeldstrasse steht das Bürogebäude mit dem angedockten Hallentrakt. Der Bestand war in die Planung einzubeziehen. | Foto © Goran Potkonjak

Hinter zwei Wohnhäusern an der Hegifeldstrasse steht das Bürogebäude mit dem angedockten Hallentrakt. Der Bestand war in die Planung einzubeziehen. | Foto © Goran Potkonjak

Das rund 9800 Quadratmeter grosse Areal hat städtebauliches Potenzial. Es grenzt an das Entwicklungsgebiet Neuhegi, das lange hauptsächlich von Industrie und Gewerbe genutzt wurde und eingefasst wird durch die Bahnlinien nach Frauenfeld und St. Gallen sowie durch den kleinen Fluss Eulach. Seit bald 25 Jahren entsteht dort sukzessive ein neues urbanes Zentrum. Zu den bereits ausgeführten Projekten zählen nicht nur Wohn- und Gewerbeüberbauungen, sondern mit dem Eulachpark auch eine rund sechs Hektaren grosse öffentliche Anlage mit ganz unterschiedlichen Freiräumen.

Situation
Querschnitt
Längsschnitt

Pläne: Studio Burkhardt / Lucas Michael Architektur

Die «campo»-Parzelle befindet sich unmittelbar ausserhalb des offiziellen Planungsperimeters für Neuhegi, das langgezogene, ebene Grundstück beginnt im Norden an der Hegifeldstrasse mit zwei kleineren Wohnhäusern und grenzt im Süden an den Reismühleweg, welcher dem rechten Ufer der Eulach entlangführt. Eine Brücke gewährt dem Fuss- und Veloverkehr an der Südwestecke des Planungsperimeters direkten Zugang zum Park auf der anderen Flussseite. Östlich und westlich des Areals trifft man auf neue Wohnüberbauungen. Auf ihm selbst steht hinter den erwähnten Wohnbauten aus dem früheren 20. Jahrhundert ein sechsgeschossiges Bürogebäude. Das klare, prismatische Volumen, das in der westlichen Hälfte des Areals steht und senkrecht zur Hegifeldstrasse ausgerichtet ist, wird über die ganze Länge der Ostfassade flankiert von einem Zwischentrakt, der übergeht in eine eingeschossige Halle mit grossem Untergeschoss. Südlich dieses Ensembles öffnet sich eine von Bäumen gesäumte Wiese. Die Wettbewerbsteams waren angehalten, den Bestand unter Berücksichtigung betrieblicher und wirtschaftlicher Aspekte so weit wie möglich zu erhalten. Die im Raumprogramm enthaltene Nutzfläche von insgesamt bis zu rund 24'000 Quadratmetern musste zu einer Auseinandersetzung mit hohen baulichen Dichten führen.

Das Foyer im Neubau soll zum Herz von «campo» werden. Das Atrium steigt bis zu den Wohnungen in den oberen Geschossen auf. | Visualisierung: Studio Burkhardt / Lucas Michael Architektur

Das Foyer im Neubau soll zum Herz von «campo» werden. Das Atrium steigt bis zu den Wohnungen in den oberen Geschossen auf. | Visualisierung: Studio Burkhardt / Lucas Michael Architektur

Das Foyer im Neubau soll zum Herz von «campo» werden. Das Atrium steigt bis zu den Wohnungen in den oberen Geschossen auf. | Visualisierung: Studio Burkhardt / Lucas Michael Architektur

Feuereifer, Foyer, begrünte Terrassen

65 Bewerbungen gingen für den Wettbewerb ein, zehn waren von Nachwuchsteams. Unter ihnen wählte das Preisgericht sieben Teams aufgrund von geeigneten Referenzen aus, zudem wurden zwei Nachwuchsteams zugelassen. Die drei Teams der Testplanung erhielten ebenfalls eine Einladung. Insgesamt waren zwölf Projekte zu beurteilen. Das Rennen machte schliesslich ein Nachwuchsteam: «Winti brännt!» der Arge Studio Burkhardt  / Lucas Michael Architektur, beide aus Zürich. Das Preisgericht empfahl der Bauherrin das Projekt einstimmig zur Weiterbearbeitung und Ausführung.

Das Feuer im Projektnamen kann sich nur auf den Eifer beziehen, mit dem die Arge ans Werk gegangen ist, denn ein Aschehaufen war ja nicht das Ziel der Übung. Und sie behandelte den Bestand auch sehr umsichtig und zurückhaltend. «Winti brännt» arbeitet das Areal von Norden nach Süden durch. Die beiden Wohnhäuser an der Hegifeldstrasse bleiben erhalten und werden durch ein drittes ergänzt. Der ebenfalls freistehende Neubau soll einen «experimentellen Quartierladen» aufnehmen. Das Ensemble mit dem Bürobau bleibt ebenfalls erhalten. Die Halle wird mit analogen Geschosshöhen aufgestockt, bis sie die Traufkante des Bürobaus erreicht. Über der Halle, die in der Horizontalen nicht unterteilt wird, erfolgt beim Aufbau beidseitig eine geschossweise Rückstufung, so dass sich die frei sichtbare Nordfassade als «Treppengiebel» präsentiert. Die Fassaden und die durch die Abstufung entstehenden Terrassen sollen begrünt werden.

Südlich dieses erweiterten Bestands schliesst direkt, auf der Westseite fassadenbündig, auf der Ostseite leicht zurückversetzt, ein Neubauteil an, der die Geschossniveaus und die Traufhöhe des Bürogebäudes ebenfalls übernimmt. Er reicht fast bis zur südlichen Arealgrenze. Die Südfassade ist auf den unteren vier Niveaus ebenfalls abgetreppt und bildet so eine Abfolge von grossen Terrassen. Sie sollen ebenfalls als «hängende Gärten» begrünt werden, dasselbe gilt für die Balkonschichten der seitlichen Fassaden. Im Gegensatz zum Büro- und Hallengebäude befindet sich das Erdgeschoss des Neubaus auf Strassenniveau. Hier befindet sich auf der Westseite, an der Zufahrt, die von der Hegifeldstrasse auch direkt zur Brücke über die Eulach führt, der Haupteingang von «campo». Er geleitet in die Foyerhalle des Neubaus, dem neuen Herz der gesamten Anlage.

Die Nordfassade des Hallenaufbaus soll begrünt werden. Darunter befindet sich die Anlieferung für die Werkstätten und Gewerberäume. | Visualisierung: Studio Burkhardt / Lucas Michael Architektur

Die Nordfassade des Hallenaufbaus soll begrünt werden. Darunter befindet sich die Anlieferung für die Werkstätten und Gewerberäume. | Visualisierung: Studio Burkhardt / Lucas Michael Architektur

Die Nordfassade des Hallenaufbaus soll begrünt werden. Darunter befindet sich die Anlieferung für die Werkstätten und Gewerberäume. | Visualisierung: Studio Burkhardt / Lucas Michael Architektur

Das Depot im Rücken

«campo» bietet auf beschränkter Fläche unterschiedliche Grade an Öffentlichkeit und Intimität. Der buchstäbliche «Elefant im Raum» ist natürlich die grosse Sammlung, die in optimalen Verhältnissen gelagert werden soll. Das Projekt orientiert sich diesbezüglich konzeptuell ganz entfernt am Schaulager der Laurenz-Stiftung in Allschwil (BL), das Herzog & de Meuron in den Nullerjahren erstellten. Der Depotbereich beginnt im Untergeschoss des Neubaus, und setzt sich ab dem dritten Obergeschoss im nordöstlichen Bereich des Ensembles fort, vor allem im Aufbau über der Halle, die für Werkstätten genutzt werden soll. Verbindendes Element zwischen den Depotebenen ist primär ein Warenlift im Neubau.

Der «Schau»-Aspekt des Lagers besteht aus Durchblicken vom Foyer des Neubaus oder vom Bürotrakt her und aus einem Schaufenster in der Nordfassade das Hallentraktes. Ausserdem sind am Rand des Foyers Einblicke ins Depot für Grossobjekte vorgesehen sowie in den Hangar, ein spezifischer Raum für die Arbeit mit Kulturerbe. Das Foyer selbst ist ein gedecktes Atrium, das in den oberen Geschossen in Querrichtung von Brücken überquert wird. Auf Strassenniveau sind neben dem Ausstellungsbereich diverse Funktionen angeordnet, welche dem Austausch mit der Umgebung und der Versorgung dienen. In der Südwestecke, nahe der Eulach und dem Eulachpark, ist ein Gastrobetrieb mit Gartensitzplätzen geplant. Das Hochparterre des Bürobaus ist vom Atrium über eine Freitreppe erreichbar. Hier sind die Kleingewerberäume untergebracht, welche die bestehende Anlieferung mit den Werkstätten in der Halle teilen.

Im ersten und zweiten Obergeschoss des Bürobaus sind auf der Westseite die Büros, Coworking Spaces, Konservierungsateliers und Zwischenlager untergebracht. Alle haben über die Umgänge am Atrium direkten Zugang zu den Aussenterrassen an der Südfassade. Im dritten Obergeschoss des Neubaus beginnt die Wohnnutzung, welche sich in den darüberliegenden Etagen auch auf die Westseite des Bürobaus ausdehnen. Das Angebot reicht von Kleinwohnungen über Maisonetten bis zu Neunzimmer-Wohngemeinschafts-Einheiten, wobei die Skelettstruktur den Rhythmus vorgibt. Die Gesamtzahl der Wohnungen soll um rund 70 liegen.

Von der Terrassenkaskade schweift der Blick über den Eulachpark. | Visualisierung: Studio Burkhardt / Lucas Michael Architektur

Von der Terrassenkaskade schweift der Blick über den Eulachpark. | Visualisierung: Studio Burkhardt / Lucas Michael Architektur

Von der Terrassenkaskade schweift der Blick über den Eulachpark. | Visualisierung: Studio Burkhardt / Lucas Michael Architektur

Zirkularität und Photovoltaik

Das Projekt erinnert aus manchen Blickwinkeln an einen begrünten Ozeanriesen. Es will die Prinzipien des zirkulären Bauens hochhalten – was die von «campo» verkörperte Sammlerleidenschaft eigentlich gut ergänzt. Praktisch alle bestehenden Gebäudestrukturen sollen erhalten bleiben. Nichttragende Bauteile des Bestandes möchte man für die neuen Fassaden, als Bodenplatten im Aussenraum und für den Quartierladen an der Hegifeldstrasse wiederverwenden.

Sämtliche neuen Bauteile sind aus den erneuerbaren, natürlichen und lokalen Materialien Holz, Stroh und Lehm geplant. Sie sollen auch alle demontierbar eingebracht werden. Der Neubau soll durch frei sichtbare Rundstützen aus Eschenholz gegliedert werden. Ein auffälliges Merkmal in der Fassade sollen Photovoltaik-Paneele sein. Das Projektteam sieht sie derart vor die Gebäudeoberflächen gehängt, dass man an abstrahiertes Laub denkt – wodurch sie die geplante Begrünung auf interessante Art ergänzen könnten.

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