Ellipsearchitecture knüpft an lokale Traditionen an

Veröffentlicht am 23. März 2024 von
Renzo Stroscio

Die «Individual Infrastructure» ist gleichzeitig Garage, Lager und Werkstatt. Sie liegt im waadtländischen Savigny in einer ländlichen Region und auf dem Gelände eines ehemaligen Steinbruchs. Das Lausanner Architekturbüro ellipsearchitecture hat mit der Verwendung von Molasse an lokale Bautraditionen angeknüpft und durch eine sorgsam komponierte Fassade aus dem kleinen Funktionsbau ein überraschend grosses Stück Architektur gemacht.

Text: Jørg Himmelreich & Renzo Stroscio

Fotos: Julien Heil

Foto: Julien Heil

Foto: Julien Heil

Foto: Julien Heil

Molasse ist als Baumaterial in Vergessenheit geraten. Dabei war der Stein früher sehr beliebt und kam insbesondere in den Städten der Westschweiz häufig zum Einsatz. Man kann bis heute Sandstein an vielen Bauwerken beispielsweise in den Altstädten von Lausanne, Freiburg und Bern beobachten. Damals wurden im Waadtland mehrere Molasse-Steinbrüche betrieben, beispielsweise der «Carrière du Nialin» in Savigny. Im 19. Jahrhundert war er einer der wichtigsten Abbauorte der Region. Er lieferte einen bläulichen Stein, der für Molasse ungewöhnlich hart ist.

«Bis heute, lange nachdem der Steinbruch aufgegeben wurde», sagt Yannick Claessens – ehemaliger Einwohner von Savigny und Mitbegründer des Büros ellipsearchitecture, «sind die Spuren des Tagebaus in der Landschaft ablesbar. Sie zeichnen sich in der Topografie als Kurven und Terrassen ab. In den 1970er-Jahren wurden darauf zahlreiche Einfamilienhäuser errichtet.»

Wiederentdeckter lokaler Rohstoff

Molasse ist zwar ein Sedimentgestein, das hauptsächlich aus Sand besteht, dennoch ist seine Oberfläche, wenn sie geschnitten wird, samtig. Daher auch der Name, der sich vom lateinischen «mollis» ableitet, was «weich» und «mild» bedeutet. Molasse lässt sich mit wenig Aufwand abbauen; beim Brechen und Schneiden ist wenig Energie nötig. Ihre Porosität macht sie jedoch anfällig: Wasser kann eindringen und bei Frost die Steine sprengen. Ältere Gebäude aus Molasse sind daher häufig stark verwittert. Das führte dazu, dass sie einen zwiespältigen Ruf als Baumaterial hat. Der Stein sollte nicht als Unterbau verwendet werden, um kapillar aufsteigendes Wasser zu vermeiden. Wenn man diesen Grundsatz befolgt, ist der Stein zum Bauen aber durchaus brauchbar und man kann von einer Haltbarkeit von bis zu fünfzig Jahren ausgehen.

Das kleine Projekt liegt in der Gemeinde Savigny – umgeben von Einfamilienhäusern und Landwirtschafts­gebäuden. | Foto: Julien Heil

Das kleine Projekt liegt in der Gemeinde Savigny – umgeben von Einfamilienhäusern und Landwirtschafts­gebäuden. | Foto: Julien Heil

Das kleine Projekt liegt in der Gemeinde Savigny – umgeben von Einfamilienhäusern und Landwirtschafts­gebäuden. | Foto: Julien Heil

Pragmatik und Tektonik

Als die Architekt*innen von ellipsearchitecture beauftragt wurden, in Savigny eine Garage zu ersetzen, wählten sie Molasse als Baumaterial für die Wände aus. Dadurch etabliert das Gebäude einen unmittelbaren Bezug zu seinem Standort, denn es steht auf den bereits erwähnten Terrassen des ehemaligen Steinbruchs du Nialin. Für das Projekt or­derten sie Molasse aus dem Steinbruch von Villarlod, der nahe der Grenze zum Kanton Freiburg liegt – 36 Kilometer vom Bauplatz entfernt. Villarlod ist einer der wenigen noch aktiven Steinbrüche der Schweiz. Die Steine werden hauptsächlich zur Restaurierung und Instandhaltung von Baudenkmälern verwendet.

Weil der Untergrund wie bereits erwähnt hauptsächlich aus Stein besteht, haben die Häuser in Savigny keine Keller. Die neue Garage sollte daher den Besitzer*innen des Einfamilienhauses auch als Werkstatt und Lager dienen. Die Architekt*innen entschieden, den Unterbau der alten Garage, die in den 1970er-Jahren aus Stahlbeton errichtet worden war, zu erhalten. So wurde die bestehende Bodenplatte und eine den Hang stützende Rückwand in den Ersatzbau integriert. Zugleich wurde die Fläche jedoch um ein Drittel vergrössert.

Langschnitt | Plan: ellipsearchitecture

Langschnitt | Plan: ellipsearchitecture

Langschnitt | Plan: ellipsearchitecture
Erdgeschoss | Plan: ellipsearchitecture
Querschnitt | Plan: ellipsearchitecture

Das Programm – Garage, Lager, Werkstatt – war simpel. Die Architektur stellt bewusst einen undefinierten Raum zur Verfügung, damit sich die Bewohner*innen ihn möglichst flexibel aneignen können. Im hinteren Teil des Raumes wurde mittlerweile eine Werkbank eingebaut, die stolz auf einer von den Nutzer*innen selbstgezimmerten Plattform thront.

Dennoch haben ellipsearchitecture die Aufgabe mit einem hohen gestalterischen Anspruch architektonisch umgesetzt. Mit einem guten Gefühl für Proportionen und Tektonik haben sie einen Hybrid aus Beton, Naturstein und Holz mit einer sorgfältig durchgearbeiteten Fassade geschaffen.

Transfers

Für die Individual Infrastructure – wie die Architekt*innen das Projekt nennen – kamen Molasseblöcke mit den Massen 200 × 120 × 20 Zentimeter zum Einsatz. Sie wurden in zwei Tranchen zur Baustelle transportiert, in zwei übereinander liegenden Reihen verlegt und in ein schlankes Gitter aus Stahlbetonelementen eingeflochten. Es verleiht Stabilität und bildet Gesimse aus, die auch als Tropfnasen fungieren, falls Schlagregen Wasser gegen die Fassade drücken sollte. Das ist konstruktiv ungewöhnlich, aber erklärt sich, wenn man weiss, dass die Architekt*innen während der Ausbildung auch bei Roger Boltshauser studiert haben. In seinem Studio haben sie 2017 einen Stampflehmpavillon für das Sitterwerk in St. Gallen entworfen. Die Semesterarbeit war zugleich ein kleiner Wettbewerb. Der Beitrag von Mattia Pretolani und Yannick Claessens erhielt den Zuschlag. Errichtet wurde leider nur ein Mock-up. Die Techniken und das Wissen haben die beiden von dort mitgenommen und sie tauchen nun bei der Garage wieder auf. So ist ein interessanter Transfer aus dem Lehm- in den Steinbau gelungen.

Um Licht in das Gebäude zu bringen, wurden zwischen die Steinblöcke und die Deckenbalken Streifen aus Glasbausteinen eingefügt. Aussen wie innen sichtbare Holzbalken tragen ein flaches begrüntes Dach. An ihnen können Fahrräder, Skier oder andere Geräte aufgehängt werden. Bekrönt wird das Gebäude von einem Fries aus Solarpanelen, die wie auf einem Regal angelehnt erscheinen. Vielleicht sind sie eine Hommage an das Ricola Lager von Herzog & de Meuron in Laufen? Das wäre eine interessante Bezugsetzung, weil (auch) dort ein banales Lager in Architektur verwandelt wurde, die längst als Klassiker gilt.

Die Behörden schrieben vor, dass das neue Gebäude keine Fenster oder Tore zur Strasse hin haben darf. Um eine langweilige Front zu vermeiden, haben die Architekt*innen die Fassade raffiniert tektonisch gegliedert. | Foto: Julien Heil
Seitlicher Eingang zur Garage. | Foto: Julien Heil

Tempel des Alltags

Das kleine Gebäude ist in mehrfacher Hinsicht ein eigenwilliger Hybrid, aus Programmen, alt und neu, klassischen Bautechniken und innovativen Ideen, ein Geschöpf zwischen banalem Schuppen und kleinem Tempel. Wer es zufällig – etwa beim Spazierengehen – entdeckt, mag sich fragen, warum eine Garage – die in der Regel meist gestalterisch beiläufig, als Infrastruktur behandelt wird – dort mit der Sorgfalt einer Palazzo-Fassade umgesetzt wurde. Sind dort junge Architekt*innen aus Ambition über das Ziel hinausgeschossen?

Der Zugang zum etwas höher liegenden Haus wurde in das neue Volumen integriert. Das Garagengebäude wurde so zum neuen «Eingangstor». | Foto: Julien Heil

Der Zugang zum etwas höher liegenden Haus wurde in das neue Volumen integriert. Das Garagengebäude wurde so zum neuen «Eingangstor». | Foto: Julien Heil

Der Zugang zum etwas höher liegenden Haus wurde in das neue Volumen integriert. Das Garagengebäude wurde so zum neuen «Eingangstor». | Foto: Julien Heil

Eine spannende Interpretation bietet sich, wenn man den kleinen Bau als Beitrag zur Frage liest, wie mit den ländlichen Regionen der Schweiz, die in den Sog der Metropoli-tanräume geraten sind, architektonisch umzugehen sei. Savigny liegt nur acht Kilometer von Lausanne entfernt. Nachdem die Bevölkerung dort viele Jahrzehnte rückläufig war, hat sie sich in den letzten 30 Jahren verdreifacht. Das hat dazu geführt, dass generische Einfamilienhausquartiere mit den Agrarinfrastrukturen verwachsen sind, ohne dass sie in einen produktiven architektonischen Dialog getreten wären. Mit diesem Fokus gelesen scheint die Individual Infrastructure eine Vermittlerrolle zwischen den ruralen Bauten und den Villen einzunehmen. Und sie wirkt wie ein Plädoyer, diesen ehemals ausschliesslich landwirtschaftlich geprägten Räumen, die langsam zu Suburbs werden, eine eigene baukulturelle Prägung zu geben, die sowohl aus deren Geschichte schöpft als auch eine Brücke zu den urbanen Lebenswelten schlägt, denen die meisten Bewohner*­innen dort mittlerweile angehören.

Der Text wurde in Arc Mag 2024–2 erstveröffentlicht.

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