Meyrin ist ausgezeichnet.

 

Wissen

Veröffentlicht am 25. Februar 2022 von
Renzo Stroscio

Der Wakkerpreis wird vom Schweizer Heimatschutz verliehen. Mit ihm werden Gemeinden für beispielhaften Ortsbildschutz ausgezeichnet. In diesem Jahr ging der Preis an Meyrin, das auf eindrückliche Weise vorführt, dass ein Mix aus der Pflege und behutsamen Weiterentwicklung des Bestandes im Verbund mit Ökologie und partizipativen Prozessen das Erfolgsrezept für eine lebenswerte Gemeinde sein können.

ⒸPierre Marmy

ⒸPierre Marmy

ⒸPierre Marmy

Meyrin war einst ein Dorf umgeben von Feldern und Wäldchen. In der Nachkriegszeit erkannte man jedoch das soziale und architektonische Potenzial des Ortes, einen Teil der Bevölkerung der wachsenden Metropole Genf aufzunehmen. Und so erlebte die Gemeinde in den 1960er-Jahren ein starkes Wachstum. Zahlreiche Wohnblocks wurden errichtet. Meyrin wurde somit zur ersten Satellitenstadt der Schweiz. Urbanes Leben gab es jedoch fast keines, sodass der Ort lange Zeit negativ als «Trabantenstadt» wahrgenommen wurde. Heute zählt die Gemeinde 26 000 Einwohner – das Zwölffache verglichen zu 1950. Meyrin liegt in einem weiter dynamisch und schnell wachsenden Gebiet an der Grenze zu Frankreich, zwischen dem CERN und dem Flughafen Genf. Obwohl die Gemeinde dicht besiedelt ist, hat sie zahlreiche Freiräume. Mit ihrer zunehmend heterogenen und multikulturellen Bevölkerung hat sich die Gemeinde über die Jahrzehnte dennoch in eine pulsierende und dynamische Stadt verwandelt. Das ist auch der Weitsicht der Gemeinde zu verdanken, die durch konsequente Pflege des baukulturellen Erbes und der Weiterentwicklung der Freiräume kontinuierlich die Lebensqualität im Ort gesteigert hat.

Verbinden

Diese Entwicklungen wurden auch dadurch begünstigt, dass die Stadt einen engen Dialog mit der Bevölkerung etabliert hat. Der historische Dorfkern ist gut erhalten. Die Bauten wurden gepflegt und an neue Bedürfnisse angepasst. Denkmalgeschützte Gebäude wie die Villa du Jardin botanique alpin oder die sich aktuell im Umbau befindende Maison Vaudagne sind für jedermann zugänglich; sie sind Begegnungsräume im Herzen der Gemeinde. Architekturwettbewerbe haben einige weitere gute zeitgenössische Neubauten hervorgebracht, wie beispielsweise die École Les Vergers von Sylla Widmann Architekten. Auch die modernen Massenwohnungsbauten aus den 1960er-Jahren wurden erhalten. Die Gebäudekomplexe sind überwältigend und erzählen von der Zeit, als die autogerechte Stadt state of the art war – ein Modell, das heute als überholt gilt. Dieses riesige Ensemble wird derzeit nachhaltig saniert und nachverdichtet, allem voran durch Aufstockungen. Die bestehende städtebauliche Struktur wird bewahrt und die Freiräume durch Verkehrsberuhigungen und landschaftsarchitektonische Eingriffe aufgewertet.

Viele Neubauten - wie die Ecole des Vergers (links) - gingen aus Architekturwettbewerben hervor. Mit dem Öko-Viertel Les Vergers (rechts) sind 1350 neue Wohnungen entstanden. Diverse öffentliche Angebote von Seiten der Bewohner*innen machen es zu einem lebendigen Ort. ⒸPierre Marmy
ⒸGaëtan Bally

Partizipieren

Meyrin legt Wert auf eine nachhaltige Entwicklung. Um sie voranzutreiben, hat die Gemeinde den Bau eines vorbildlichen Ökoviertels initiiert. In Les Vergers sind 1350 neue Genossenschaftswohnungen für 3000 Menschen entstanden. Der Gemeinde war es wichtig, dass die Bevölkerung in die Planung miteinbezogen wurde. Die soziale, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit stand im Vordergrund. Das Viertel ist autofrei: Alle Parkplätze befinden sich in einer Tiefgarage unter der zentralen Fussgängerzone, sodass ein lebendiges und belebtes Viertel entstehen konnte. Es macht Spass dort zu spazieren oder zu spielen. Dieser zentrale Raum ist ein Treffpunkt, dessen Gestaltung soziale Interaktionen fördert. Von der Bevölkerung getragene öffentliche Angebote machen das Quartier zusätzlich lebendig. Das Quartier ist zudem energieautonom. Mit Fotovoltaik produziert es seine gesamte Energie selber und die Abwärme von Firmen und einem Krankenhaus sowie eine grosse zentrale Wärmepumpe heizen das Brauchwasser auf. Den Strom für die Wärmepumpe liefern ebenfalls die eigenen Fotovoltaik-Anlagen.

Biodiversität und Naherholung im Einklang

Das ehemalige Bauernhaus Ferme de la Planche wurde von der Gemeinde Meyrin renoviert und der städtischen Landwirtschaftsgenossenschaft «Les Vergers» zur Verfügung gestellt. Der Betrieb wird von den Anwohner*innen bewerkstelligt. Sie sensibilisieren für den Wert lokaler Produkte. Zugleich ist das Gelände ein wichtiger Baustein der Freiraumgestaltung. Auch der Lac des Vernes, ein neuer künstlicher See, war eine weitere wertvolle Initiative. Er dient dem Abwassermanagement der Gemeinde und ist zugleich ein Biotop. Mit ihm wird die Artenvielfalt gefördert und er ist ein beliebtes Naherholungsgebiet. Im kulturellen Bereich entstand der «Fonds d’art contemporain de Meyrin», der vielfältige Kunstprojekte im öffentlichen Raum ermöglicht hat. Sinnbildlich dafür steht die Skulptur «L’enfance du pli». Diese Landart von Gilles Brusset sieht aus, als sei der Rasen vor der École des Boudines teilweise erodiert. Als topografischer Spielplatz ist sie bei Kindern sehr beliebt. Die Gemeinde setzt auf ein eigenständiges, reichhaltiges Kulturangebot, das die Identifikation mit dem Ort und den Austausch fördert. So ist es Meyrin gelungen, die Bedürfnisse ihrer Einwohner*innen mit den Anforderungen der Natur in Einklang zu bringen und für die lokale Bevölkerung sowohl einen Ort mit einer wertvollen Architektur und zugleich mit mehr Biodiversität zu schaffen. Meyrin hat sich die Auszeichnung verdient!

Der Lac des Vernes dient dem Abwassermanagement, ist aber zugleich ein Biotop, das die Biodiversität fördert und ein beliebtes Naherholungsgebiet. ⒸPierre Marmy
L'enfance du pli ist ein Landart-Kunstwerk von Gilles Brusse in Boudines. ⒸPierre Marmy

Text: Renzo Stroscio

Fotos Partimoine suisse

Erstveröffentlichung im Arc Mag 2.2022

193409148