Alemannenschule Wutöschingen Sekundarstufe II
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Deutschland
Veröffentlicht am 01. April 2025
Raumreaktion GmbH c/o Gruber & Ianeselli
Teilnahme am Swiss Arc Award 2025
Projektdaten
Basisdaten
Gebäudedaten nach SIA 416
Beschreibung
Im Januar 2022 war es so weit: Nach 16 Monaten Bauzeit konnte im baden-württembergischen Wutöschingen der Neubau für die gymnasiale Oberstufe der Alemannenschule bezogen werden. Entworfen hat das neue Schulgebäude das Architekturbüro von Harald Jäger. Für die Innenarchitektur war das interdisziplinäre Innenarchitekturbüro Raumreaktion aus Zürich verantwortlich.
Schule sah früher so aus: Die Lehrperson stand im klassischen Frontalunterricht vorne und referierte, die Schülerinnen und Schüler hörten zu und schrieben auf streng angeordneten Bänken fleissig mit. Wer nicht zuhörte, hatte Pech, denn: Wer sonst, wenn nicht die Lehrperson würde ihnen das Wissen vermitteln können? Die Wissensvermittlung durch Frontalunterricht bedeutete architektonisch, dass sich entlang eines langen Flurs ein Klassenzimmer an das nächste reihte. Längst wird diese Lehrform jedoch immer mehr vom problemlösenden und selbstorganisierten Lernen wie Gruppen- oder Einzelarbeit abgelöst. Auch ist Wissensarbeit nicht mehr bloss an einen Lehrort wie die Schule gebunden. Wissen kann heutzutage über vielfältigen Medien auch von zu Hause aus angeeignet werden. Generell scheint die Entwicklung in der Schularchitektur jedoch nur im Schneckentempo vonstattenzugehen, klassische Flurschulen mit aneinandergereihten Klassenzimmern bilden immer noch die Mehrheit. Nicht so an der Alemannenschule im süddeutschen Wutöschingen. Hier gibt es weder Klassenzimmer noch Lehrerzimmer. Eigentlich erinnert nicht viel an eine Schule, die man sonst kennt. Auf 2439 Quadratmetern, verteilt auf zwei Geschosse, gehen am Gymnasium der ASW rund 180 Personen ein und aus.
Einzigartig ist: Die Architektur wurde genau auf das pädagogische Konzept abgestimmt, das in der Schule tagtäglich umgesetzt wird. Dabei wurden die PädagogInnen von Anfang an in den Planungsprozess miteinbezogen. Es ist unmöglich, Arbeitsräume zu schaffen, ohne dabei die Menschen einzubeziehen, die beschreiben, wie sie genau darin arbeiten werden. Klar erkennbare Raumfunktionen sollten den Lernpartner*innen und Lernbegleiter*innen (so bezeichnet man an der ASW die Schüler*innen und Lehrer*innen) das Einfinden in den Lernalltag vereinfachen.
In der ASW stehen Schlüsselkompetenzen wie Selbstverantwortung und selbstorganisiertes Lernen im Mittelpunkt. Dafür müssen Räume so gebaut werden, damit sie den Lernenden eine grösstmögliche Flexibilität und Selbstbestimmtheit bieten können. In einem Moment erfordert eine Aufgabe Konzentration, im nächsten Augenblick ist eine Kooperation mit anderen gefragt. Unser Gehirn ist nicht darauf ausgelegt, sich acht Stunden lang durchgehend Wissen anzueignen. Für effektives Lernen braucht es geplante Pausen und dafür geeignete Räume, wo Rückzug und Entspannung möglich sind. Ein gelungener Schulkontext muss versuchen, den unterschiedlichen Grundbedürfnissen gerecht zu werden. Raumreaktion nimmt sich dabei den Begriff des «Raums als dritten Pädagogen» von Loris Malaguzzi aus der Reggio Pädagogik sehr zu Herzen. Nie ist ein Raum bloss eine Hülle. Immer nimmt er, wenn auch nur auf einer unbewussten Ebene, Einfluss auf unser Befinden und unser Verhalten. So besitzt jeder Raumtyp an der ASW seinen ganz eigenen Charakter.
Die Fächer der ASW sind nicht als getrennte Bereiche anzusehen, sondern als sich überschneidende und sich gegenseitig befruchtende Inhalte einer offenen Lernstruktur. Das Zentrum des Gebäudes bildet der zweigeschossige Co-Learning-Space mit sichtbarer Holzkonstruktion. Die runden, skulpturalen Sitzmöbel setzen einen starken räumlichen Anker. Geometrische Wandmalereien und die fliegende Lichtkörper ergänzen die Möbellandschaft im Luftraum und symbolisieren das Ausfliegen und den Forschergeist. Hier trifft man sich, erarbeitet etwas zusammen oder wählt sich inmitten einer Variation von Sitz- und Stehmöglichkeiten seinen Einzelarbeitsplatz aus. Er ist das Herz des Gebäudes und macht in seiner Ausgestaltung die Identität der Schule sichtbar. Menschen sind dafür gemacht, im sozialen Gefüge dazuzugehören. Das Gefühl der Zugehörigkeit ist der Schlüssel, damit die Menschen ihren wertvollen Beitrag zur Schulkultur auch leisten möchten. Eine in der Mitte des Raumes im Boden eingelassene Bronze-Plakette erinnert die Lernenden an die Philosophie, auf der die Schule das Lernen basiert: „Mit dem Herzen dabei“. Verglasungen zwischen den Fachräumen und den Zirkulationszonen schaffen Einblicke und Transparenz.
Die kaskadenartige Sitztreppe bildet einen fliessenden Übergang des offenen Co-Learning-Spaces im Erdgeschoss zu den Input- und Coachingräumen im Obergeschoss. Der Aufgang ist gleichzeitig eine willkommene Sitzgelegenheit auf Kissen und Säcken. Eine grossflächige Fensteröffnung entlang der Sitztreppe gibt den Blick nach aussen frei. Massgefertigte Polstermöbel, die sich in Aufbau, Dimensionen und Details durch das ganze Gebäude ziehen, bringen Ruhe in die Räume und konnten – nicht zuletzt – kostengünstig als Kleinserie produziert werden. Alle Räume haben Zugang zu den Aussenterrassen und können so in den Lernalltag mit einbezogen werden. Der architektonische Materialmix aus Sichtbeton, farblich gestalteten Putzwänden, Eiche-Parkettfussboden und Holz- und Fensterelementen schaffen eine warme Hülle. Kurzum: Statt eine Hülle zu bauen und diese dann mit Möbeln und Menschen zu füllen, wurde die ASW um die Bedürfnisse der Menschen, die darin lernen und lehren, herumgebaut. Das Lernkonzept der ASW gab die Richtung vor, die Räumlichkeiten wurden den Bedürfnissen angepasst und entsprechend konzipiert.
Macht Wutöschingen bald Schule? In Wutöschingen ist man begeistert von der neuen ASW. Laut dem Bürgermeister Georg Eble gibt es bis anhin kein vergleichbares Projekt. Doch es ist nicht auszuschliessen, dass das Konzept der Alemannenschule Wutöschingen im deutschsprachigen Raum noch Schule machen wird.
Die einzelnen Gebäudeteile im Detail:
● Garderobe/Empfang: Das Gebäude wird durch ein Nadelöhr betreten – die Garderobe. Hier soll man in Ruhe ankommen und die Schuhe wechseln, Jacke, Rucksack und andere Dinge in persönliche Fächer versorgen. Hier gibt es Kunstharzoberflächen, die unterschiedliche farbliche Akzente setzen, feuerverzinkte Abtropfbleche für die Schuhe und Lochwände aus Eschen-Massivholz, um Jacken aufzuhängen.
● Passage: Hier befindet sich der Parkplatz der persönlichen Rollcontainer der LernbegleiterInnen. Die ASW ist non-territorial aufgebaut. Das bedeutet, dass es keine festen Arbeitsplätze gibt- auch nicht für die Lehrpersonen. Gegenüber sind die Postfächer der LernpartnerInnen angeordnet.
● Co-Learning: Herzstück des Gebäudes ist der gigantische Co-Learning-Space, ein Grossraum mit vielen Sitz- und Stehmöglichkeiten und einem im Boden eingelassenen Bronze-Signet. Rundherum, an symmetrische römische Stadtpläne angelehnt, sind Lerninseln angeordnet.
● Kreativität: Der Create-Raum, der im Stil von Startups mich Hochtischen, Hockern und Schreibtafeln möbliert ist, eignet sich für Brainstorming und zum Planen. Daneben liegen Labore und Werkstätten – die eine für Musik mit einer Bühne für Konzerte, Präsentationen oder Vorträge, eine andere für Kunst mit einem separaten Raum, um unfertige Arbeiten zwischenzulagern. Im Raum Move ist Platz für Yoga, Tanz und Gruppenkurse.
● Sitzungen: Der Sitzungsraum erinnert mit einer Bank entlang der Wand an das britische Parlament. Er ist für wichtige Gespräche oder Konferenzen reserviert und von Ernsthaftigkeit geprägt.
● Worldcafé: Im Erdgeschoss befindet sich der einzige Raum, in dem neben der Mensa gegessen werden darf: Das Worldcafé. Weltläufigkeit, Reisen und Sprachen werden hier umgesetzt mit Gruppentischen und Lounges – und Tischen an denen ausschliesslich eine bestimmte Sprache gesprochen werden soll.
● Coaching: Die Coachingräume tragen Namen von Krafttieren – Eule (Weisheit), Biber (Produktivität), Eichhörnchen (Vorbereitung), Falke (Zielgerichtetheit), Bär (Standhaftigkeit), Elefant (Entschlossenheit). Die Jugendlichen sollen diese Stärken mit sich in Verbindung bringen können. Daneben gibt es offene Flächen für informelle Treffen, Gruppen- und Einzelarbeit mit Weit- und Aussicht durch ein Fenster auf den Co-Learning Space.
● Meditation: Sie widmen sich der inneren Ruhe und fördern die Reflektion. Sie sind mit Liegen und Sitzkissen ausgestattet und werden ausschließlich für geführte Meditationen oder als absolute Ruhezone genutzt.
● Silence: Im Silence-Raum herrscht absolutes Sprechverbot. Er dient der Vertiefung in ein Thema und erlaubt höchste Konzentration.
Das Projekt von Raumreaktion wurde im Rahmen des Swiss Arc Award 2025 eingereicht und von Jeannine Bürgi publiziert.