
Comédie de Genève
,
Schweiz
Veröffentlicht am 27. Dezember 2021
FRES ARCHITECTES - GRAVIER MARTIN CAMARA SARL, Paris succursale de Thônex (Genève)
Teilnahme am Swiss Arc Award 2022
Projektdaten
Basisdaten
Gebäudedaten nach SIA 416
Beschreibung
Genf hat seit August 2021 ein neues Theater. Wirkt der Neubau aus der Feder von Sara Martín Cámara und Laurent Gravier am Tag nüchtern, leuchtet seine verglaste Halle nachts magisch und lädt zum Eintreten ein.
An der Route de Chêne, einer stark befahrenen Achse im Genfer Quartier Eaux-Vives, leuchtet seit wenigen Monaten die Nouvelle Comédie. Sie soll das Herz eines neuen Areals werden, dessen Errichtung möglich wurde, weil die Bahnlinie Annemasse-Genève-Eaux-Vives als Teil einer neuen S-Bahn-Linie in den Untergrund verlegt wurde. Der alte Bahnhof und umliegende Industrie- und Gewerbebauten wurden abgerissen. Dies eröffnete Raum für 400 neue Wohnungen, Geschäfte, Restaurants und Büros.
Schreitet man die Treppen aus dem Tiefbahnhof des Léman Express (entworfen von Jean Nouvel) nach oben, gelangt man auf einen neuen, erhöht liegenden Platz unmittelbar vor dem Theater. «Skyline» nannten die Architekt*innen von FRES ihren Entwurf. Der Name ist Programm. Wie eine abstrakte Burg mit vier riesigen Zinnen breitet sich der Neubau mit einer 100 Meter langen Fassade aus und gibt dem neuen öffentlichen Raum davor Halt und Charakter.
Ein lebendiger Ort
Beim internationalen Wettbewerb im Jahr 2009 konnten FRES Architekten mit ihrem Vorschlag überzeugen. Das Architekturbüro aus Paris von Sara Martín Cámara und Laurent Gravier schlug ein kompaktes, funktionales, minimalistisches und zeitgemässes Gebäude vor, das auf spektakuläre Gesten weitestgehend verzichtet. Dass sie damit bei der Jury punkten konnten, mag der Tatsache geschuldet sein, dass dem Projekt ein langes politisches Tauziehen voranging. Genf hat mit dem Theater am Boulevard des Philosophes aus dem Jahr 1913 bereits ein Schauspielhaus. Doch dieser Altbau war in die Jahre gekommen. 1987 schlug daher Regisseur Matthias Langhoff vor, ein neues zeitgemässes Theater zu bauen. Erst 2016 konnten sich Stadt und Kanton Genf dazu durchringen, für den Neubau 98 Millionen Franken bereitzustellen.
Aller vordergründigen Bescheidenheit zum Trotz sollte das Theater zugleich ein kraftvoller Akteur in der Entwicklung des Quartiers sein und als Katalysator die Erneuerung von Eaux-Vives vorantreiben. Dem lang gestreckten Foyer, das entlang der gesamten Längsseite des Gebäudes verläuft, kommt dabei eine besondere Rolle zu. An drei Stellen laden Flügeltüren zum Eintreten ein. Die gläserne Fassade lässt so den Platz und das Foyer miteinander verschmelzen. Wer mag, kann den Weg durch das Gebäude als Abkürzung nutzen, etwa um vom Bahnhof zum Voie Verte auf der zum See orientierten Seite der Comédie zu gelangen. Auf diesem Rad- und Fussgängerweg auf der ehemaligen Bahntrasse wird man dereinst bis nach Frankreich gehen und radeln können.
Letzlich steht das Theater städtebaulich jedoch nur in der zweiten Reihe, denn ein höheres Wohn- und Geschäftshaus versperrt von der Avenue de la Gare des Eaux-Vives aus gesehen den Blick auf die Comédie weitestgehend. Die Architektur bezieht sich daher in ihrer Form und Ausrichtung vor allem auf die Fussgänger*innen auf der neuen Esplanade.
Minimal und doch grandios
Dass beide Längsfassaden verglast sind, gibt dem kompakten Gebäude eine gewisse Leichtigkeit. Über Treppen und Aufzüge erreicht man zahlreiche Galerien. Ebenso wie das Restaurant ist auch das Foyer für jedermann jederzeit zugänglich. Mit seiner räumlichen Üppigkeit erinnert es an die Passagen des Fin de Siècle beispielsweise in Paris. Doch wurde in Genf komplett auf architektonische Schmuckelemente verzichtet. Und dennoch gibt es eine Art modernes Ornament: LED-Leuchten wurden hinter der perforierten Fassade an der Stirnseite des Gebäudes positioniert. In der Nacht lassen sie den Namen der Comédie in riesigen Buchstaben erstrahlen.
Inszenierung pur
Der Bau artikuliert sich nach aussen als eine Reihung von vier Volumen. Grob gesprochen wird eines vom kleinen Saal gefüllt, zwei vom grossen Saal mit seinem Bühnenturm und ein weiteres von den Ateliers. Eingewoben sind darüber hinaus Übungsräume, Büros, Kantinen, eine Bar, Garderoben, Kassen sowie ein Restaurant.
Aus Letzterem kann man durch eine Verglasung zuschauen, wie in den Ateliers Bühnenbilder und Kostüme hergestellt werden. Im Gegensatz zur alten Comédie am Boulevard des Philosophes findet hier also der gesamte Entstehungsprozess einer Theaterproduktion von den Proben über die Herstellung der Bühnenbilder bis zur Vorführung an einem Ort statt. Über das Erdgeschoss kann das Atelier unmittelbar mit Camions beliefert werden.
Die beiden Theatersäle entwarfen FRES in Zusammenarbeit mit renommierten Bühnenbildnern. Der grössere bietet 500 Sitzplätze und ist klassisch organisiert: Die Zuschauerränge stehen der Bühne frontal gegenüber und es gibt einen Orchestergraben. Die Wände und Decken im Saal haben bossenartig geformte Verkleidungen aus goldenem Streckmetall. Dahinter sind Lautsprecher und Beleuchtung untergebracht. Der zweite, kleinere Saal ist eine Blackbox und bietet Platz für 200 Personen. Er soll Experimente ermöglichen. Um ihn möglichst flexibel bespielen zu können, lassen sich die Zuschauerränge einfahren und die Stühle frei platzieren. Die Wände sind mit schwarzen Lamellen aus Faserzement verkleidet, was für eine hervorragende Akustik sorgt. Beide Bühnen verfügen über eine ausgeklügelte moderne Theatertechnik. Im Schnürboden versteckt bleibt sie den Gästen aber fast komplett unsichtbar.
Bei der Gestaltung des Gebäudes ging es den Architekturschaffenden darum, die technischen und künstlerischen Anforderungen in einen adäquaten architektonischen Ausdruck zu überführen und gleichzeitig einen poetischen Ort zu schaffen, der das Publikum unmittelbar in das Bühnengeschehen eintauchen lässt.
Die tagsüber zurückhaltende und sachliche Architektur verwandelt sich abends in eine magisch leuchtende Laterne. FRES haben ganz bewusst die Nouvelle Comédie als Hybrid aus Theatermaschine und verzaubertem Ort inszeniert, an dem sich Aufklärung und Verklärung wie selbstverständlich vereinen.
Text: Renzo Stroscio
Erstveröffentlichung im Arc Mag 1.2022
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