Zwischen Poesie und Politik – das BILLBOARD setzt Zeichen für Gleichberechtigung

Veröffentlicht am 15. Dezember 2025 von
Frida Grahn

Zwölf Texte zu Geschlechterrollen und Machtstrukturen erscheinen über ein Jahr hinweg in grossen Lettern an den Gleisen des Hauptbahnhofs Zürich – als sichtbares Statement für Gleichberechtigung und als Aufruf zum kollektivem Handeln. Das Projekt von Créatrices.ch – zusammengesetzt aus gewöhlichen Baugerüstteilen – stellt zugleich die grössere Frage, wie Architektur zu einem Medium gesellschaftlicher Reflexion werden kann.

Text: Kollektiv t8y | Foto: Jørg Himmelreich

Text: Kollektiv t8y | Foto: Jørg Himmelreich

Text: Kollektiv t8y | Foto: Jørg Himmelreich

Die Gleise glänzen in der untergehenden Sonne. Unter den Füssen bremsen die Züge auf der Einfahrt zum Hauptbahnhof Zürich. Am Ende des Negrellistegs, in leuchtend weissen, meterhohen Buchstaben, steht: «How do you rate patriarchy?» Die Worte hängen auf einer monumentalen Stahlstruktur am Gleisfeld – einer acht Meter hohen und achtzehn Meter breiten feministischen Anzeigetafel.

Die Kunstinstallation BILLBOARD geht auf eine Idee der Architektin Nelly Pilz aus dem Künstlerduo WILLIPILZ zurück. Realisiert wurde sie vom Verein Créatrices.ch, der sich seit 2017 dafür einsetzt, das kreative Schaffen von Frauen sichtbar zu machen und bestehende Normen in Architektur und Gesellschaft zu hinterfragen. Der Verein arbeitet ohne kommerzielle Absicht, aber mit viel Energie und klarem Ziel: Strukturen zu verändern, Diskurse zu öffnen und weibliche Perspektiven im öffentlichen Raum zu stärken. Inspiriert von dieser Haltung bin ich in diesem Herbst selbst Teil des Vorstands geworden. Was mich besonders beeindruckt, ist die Unmittelbarkeit, mit der hier Ideen umgesetzt werden. Bei Créatrices.ch ist der Weg von der Vision zur Tat kurz; Planung und Realisierung geschehen mit professioneller Sorgfalt, aber zugleich mit einer Spontaneität und Offenheit, wie sie in etablierten Institutionen selten ist. Die Arbeitsweise ist kollektiv, offen für Kooperationen und geprägt von einer Haltung des gemeinsamen Erforschens.

Situation
Schnitt | Plan: ARGE Willi Pilz Architektinnen

Die Gruppe stand bereits hinter der vielbeachteten Intervention FrauMünsterhof21 (2021), mit der fünfzig Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz gefeiert wurde mit Performances und Diskussionen auf dem Zürcher Münsterhof. (Siehe dazu auch: Arc Mag 2022–6, S. 170–173. In diesem Jahr gewann der Pavillon einen Arc Award). Wie damals dient auch im Fall von BILLBOARD ein Baugerüst der Firma Kamber Gerüste aus Olten als temporäre, modulare und wiederverwendbare Konstruktion.

Das Projekt wurde im Herbst 2024 mit einem Open Call und der Einladung lanciert, kurze Texte einzureichen, die sich mit gesellschaftlichen Strukturen und Geschlechterrollen auseinandersetzen. Innerhalb von nur sechs Wochen gingen 848 Beiträge ein. Aus diesen wählte eine interdisziplinäre Jury zwölf Texte aus, die im Verlauf eines Jahres auf der Anzeigefläche erscheinen werden. Die Zusammensetzung der Jury widerspiegelte den dialogischen Anspruch des Projekts, mit der Historikerin Elisabeth Joris, der Schauspielerin Laura de Weck, der Herausgeberin Mirjam Fischer, der Spoken-Word-Poetin Fatima Moumouni, der Fussballspielerin und Politikerin Sarah Akanji sowie zwei Mitglieder von Créatrices.ch. Von Mai 2025 bis April 2026 wird jeden Monat ein neuer Text am Gerüst angebracht und damit für einige Wochen Teil des Zürcher Stadtbilds. Bei jedem Wortwechsel steigt ein kleines Team auf die acht Meter hohe Struktur, um die Buchstaben aus Hohlkammerplatten per Hand auszutauschen, was Geduld und Schwindelfreiheit verlangt.

Grundriss | Plan: ARGE Willi Pilz Architektinnen

Grundriss | Plan: ARGE Willi Pilz Architektinnen

Grundriss | Plan: ARGE Willi Pilz Architektinnen

Aufrufe zum Wandel

Jede neue Textenthüllung wird von einem Rahmenprogramm begleitet, das den Dialog erweitert und den jeweiligen Satz in einen grösseren gesellschaftlichen Zu­sammenhang stellt. Die Autor*innen sind dabei selbst anwesend, wodurch sich unmittelbare Gespräche mit dem Publikum ergeben können. Im Juli 2025, während der Fussball-Europameisterschaft, verwandelte sich der Wilde Platz in eine Begegnungszone mit Public Viewing. Im August fand der Text «Schribsch wenn deheime acho bisch» besondere Resonanz. Der Satz erinnerte an eine alltägliche SMS und konnte als Kommentar zur Sicherheit im öffentlichen Raum gelesen werden; als Geste der Fürsorge, die Verbindungen stärkt. Begleitet wurde die Enthüllung von einer nächtlichen Stadtwanderung, konzipiert von Henriette Lutz. Im September erklang ein anderer Ton: «I am the girl who misses much» – ein poetischer, etwas melancholischer Satz von Cordula Schieri, der auf ein Beatles-Zitat und eine Videoarbeit von Pipilotti Rist aus den Jahr 1986 anspielte. Zur Eröffnung am ZollstrassFäscht traten Sibylle Aeberli und Stefanie Grob mit einer gefeierten Performance auf, die Musik, Witz und feministische Kampflust verband.

Einer der prägnantesten Texte war jedoch der erste: «Que la honte change de camp» – «Die Scham soll die Seite wechseln» – ein Zitat von Gisèle Pelicot aus dem Gerichtsprozess im Jahr 2024. Es ist ein Satz von anhaltender Aktualität, der Wut, Mut und Hoffnung zugleich trägt. Der Oktober-Schriftzug über die Bewertung des Patriarchats, verfasst vom Kunstkollektiv t8y, führte diesen Gedanken mit spielerischer Schärfe weiter. Er drehte dabei die Logik der digitalen Plattformen um: Likes und Ratings, die Währung der Aufmerksamkeitsökonomie, wurden hier gegen das System selbst gewendet. Auf Google Maps wurde neben der Installation ein neuer Ort markiert: «Patriarchy», der seither konsequent schlechte Bewertungen erhält.

BILLBOARD ist schon von Weitem sichtbar, besonders vom Negrellisteg, der Fussgängerbrücke, die seit 2021 die Kreise 4 und 5 miteinander verbindet. An diesem urbanen Knotenpunkt begegnen sich zwei unterschiedliche Welten: im Süden die kommerziell dichte Europaallee, im Norden das lebendige Quartier rund um die Zollstras­se. Seit die Genossenschaft Kalkbreite das Zollhaus fertiggestellt hat, hat sich das stark verändert. (Siehe zum Zollhaus auch: Arc Mag 2022–3, S. 90–101.) Entlang der neuen Promenade reihen sich kleine Läden, Architekturforum, Eisdiele, Stand-up-Bühne und Restaurants, die sich zu beiden Seiten öffnen. Es ist ein fein austariertes Stadtgefüge. Die Mischung wirkt gleichzeitig geordnet und offen – so wie Zürich funktioniert, wenn die Stadt sich von ihrer besten Seite zeigt. Die Architektur ist zukunftsorientiert, experimentell und sozial durchdacht.

Das BILLBOARD etabliert einen Ort für Beobachtungen und Performances. | Text Ginger, Cornelia Caviglia, Vanessa Gerotto | Foto: Katharina Lütscher

Das BILLBOARD etabliert einen Ort für Beobachtungen und Performances. | Text Ginger, Cornelia Caviglia, Vanessa Gerotto | Foto: Katharina Lütscher

Das BILLBOARD etabliert einen Ort für Beobachtungen und Performances. | Text Ginger, Cornelia Caviglia, Vanessa Gerotto | Foto: Katharina Lütscher

Fast selbstverständlich scheint es, dass ein kleiner Teil des Grundstücks unter dem Namen Wilder Platz für freie, temporäre Nutzungen reserviert wurde, als ein Stück offenes Terrain für kreative Erkundungen. Hier hat BILLBOARD seine Heimat gefunden. Die gemeinwohlorientierte Haltung des Zollhauses bildet einen Kontrast zur anderen Seite der Gleise, wo in der Europaallee globale Konzerne wie UBS und Google residieren. Vielleicht wird nun dort, beim Blick aus den Bürofenstern, hin und wieder über die Frage von Ungleichheit nachgedacht? So sendet BILLBOARD seine Botschaften wie Signale in den Stadtraum, als Fragmente von Ideen, die weitergedacht werden wollen. Wie der Negrellisteg bildet auch die Installation eine Brücke.

Stadtraum als Ereignis

BILLBOARD wirft ausserdem Fragen zur Rolle von Kommunikation in der Architektur auf; ein Thema, das Robert Venturi und Denise Scott Brown 1972 in ihrem Buch «Learning from Las Vegas» in den Mittelpunkt rückten. Architektur, so ihre These, sei immer auch Trägerin von Botschaften. Entsprechend plädierten sie für eine Architektur, die lesbar ist und deren Bedeutung verstanden werden kann, und folgerten: Anstelle skulpturaler, schwer zu entschlüsselnder Formen könne man auch einfach ein Schild aufstellen. Venturis berühmte Skizze «I am a monument» illustriert diesen Gedanken: ein schmuckloser Bau, auf dessen Dach eine grosse Tafel montiert ist, wie ein dekorierter Schuppen.

Die Faszination für diese Art von Lesbarkeit zieht sich durch viele ihrer Projekte, vom Wettbewerbsbeitrag für die National College Football Hall of Fame (1967) bis zu den nie realisierten Entwürfen für eine digitale LED-Fassade am Whitehall Ferry Terminal (1995). Auch in Zürich hat die Ästhetik der Werbetafel in den letzten Jahren eine neue Sichtbarkeit erlangt, oft im Rahmen von Kunst-am-Bau-Projekten. Ugo Rondinones Leuchtschrift «Love invents us» (1999) thront auf dem Dach des Löwenbräu-Areals, und auf der Schule Pfingstweid installierte das Kollektiv CKÖ 2019 mit «Pfingstweider» ein poetisches Billboard mit drei Figuren aus weissem Neon. BILLBOARD geht noch einen Schritt weiter: Hier wird auf das Gebäude verzichtet und die Botschaft selbst tritt in den Vordergrund. Was bleibt, ist eine reine Kommunikationsstruktur aus Buchstaben, Stahl und Licht. Die Tafel spricht ohne digitale Vermittlung zu den Passant*innen, als Einladung, den Blick zu heben und einen Moment innezuhalten.

In einer Zeit, in der der Blick fast unablässig auf Bildschirme gerichtet ist, wird das analoge Wort im Stadtraum wieder zum Ereignis. Das Projekt verhandelt das Verhältnis von digitalem und physischem Raum und wie sich beide Ebenen ergänzen, durchdringen und gegenseitig verstärken. BILLBOARD nutzt diese Wechselwirkung bewusst: Die Installation ist lokal verankert und wird zugleich medial weit verstreut. Täglich passieren Hunderttausende das Gleisfeld und damit die Installation. Gleichzeitig entfaltet sie sich im Digitalen weiter: Wer den Satz liest, fotografiert, teilt und verleiht ihm neue Reichweite. So zirkuliert die Botschaft in den Feeds jener, die sie vielleicht nie im Stadtraum selbst gesehen haben. Nach Abschluss des Projekts im Frühjahr dieses Jahres wird die Aktion aus­serdem in einer Bildserie dokumentiert, als bleibende Spur einer temporären Intervention. So wirdt das BILLBOARD in Erinnerung bleiben, auch wenn das Gerüst längst abgebaut ist.

Der Text wurde für das Swiss Arc Mag 2026–1 verfasst.

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