Chalet-Ästhetik im Wandel der Zeit – von den Alpen nach Wisconsin
Von der Alp in die weite Welt hinaus: Die Ausstellungen im Zentrum für Architektur und im Heimatschutzzentrum Zürich verfolgen die Spuren des Chalets – in Andermatt, in Wisconsin oder im Libanon.
«Auf den blumigen Hügeln liegt ein einsamer Weiler, der eigentlich nur Liebenden zur Zufluchtsstätte dienen sollte. Rings um die Hauptwohnung liegen zerstreut in ziemlicher Entfernung einige Chalets, die dazu geschaffen sind, der Liebe und Lust – diesen Freunden ländlicher Einfalt – Obdach zu bieten», hiess es in Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) im Jahr 1761 erschienenem Briefroman Julie oder Die neue Heloise. Die Liebesgeschichte eines Mädchens aus adliger Familie und seines bürgerlichen Hauslehrers, die «in einer kleinen Stadt am Fusse der Alpen» stattfindet, war einer der beliebtesten Romane des 18. Jahrhunderts. Und nicht nur das. Rousseaus Bestseller war nebenbei eine Werbung für Reisen in die Schweiz: Mit der Entdeckung der Alpen begann damals der Tourismus in der Schweiz Fahrt aufzunehmen.

Chalet an der Landesausstellung von 1896 in Genf im Village Suisse | Foto © ETH-Bibliothek Zürich, François-Frédérice Boissonnas
Souvenirs von Schweizer Kleinmeistern
Derweil etablierten sich, parallel zum aufkommenden Fremdenverkehr, die sogenannten Schweizer Kleinmeister: Maler, die idyllische Landschaften oder Stadtszenen in Aquarell oder Öl festhielten. Manchmal skizzierten sie die Sujets nur, um später in der Werkstatt nach diesen Vorlagen Radierungen oder Stiche anzufertigen. Die Ansichten wurden bis weit ins 19. Jahrhundert hinein von Touristen gerne als Souvenir gekauft. Oft zeigten sie auch Sennhütten, bäuerliche Alltagsszenen, dramatische Alpenpanoramen oder Ansichten von Seen und Gletschern. Damit begann sich nicht nur ein idyllisches Bild der Schweiz auszubreiten zudem auch das Chalet gehört.
Von der Reise des bescheidenen Holzhauses rund um den Globus und von seinem Wandel berichtet die aktuelle, ursprünglich vom Gelben Haus in Flims entwickelte Ausstellung Mythos Chalet im Heimatschutzzentrurm, in der Villa Patumbah in Zürich. So brach etwa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein regelrechter Chalet-Boom aus: Wer es sich leisten konnte, liess sich ein Wohnhaus in Form eines pitto-resken Chalets errichten. Möglich machten dies Chaletfabriken wie die international tätige Parquet- und Chaletfabrik Interlaken. Sie lieferte die vorgefertigten Einzelteile an, sodass sie vor Ort nur noch zusammengebaut werden mussten. Auch die englische Königin Victoria hatte ihre Liebe zu den Sennhütten zu entdeckt: Sie erfreute ihre Kinder mit einem kleinen Chalet, das sie für sie im Park von Osborne House, ihrem Landsitz auf der Isle of Wright, bauen liess. Wenig später erfasste die Chaletbegeisterung Skandinavien und Deutschland, trotz eigener Holzbautraditionen hinterliess der schweizerisch angehauchte «Laubsägeli-Stil» hier ebenfalls Spuren, etwa als Villen oder Hotels. Überdimensionierte Chalets in Form von Hotels gibt es allerdings nicht nur in Europa, sondern zum Beispiel auch im libanesischen Faraya-Skiresort.

Chalets in New Glarus: Seit 25 Jahren sorgen Bauvorschriften dafür, dass der schweizerische Charakter des Ortes gewahrt bleibt. | Foto: Brian Griffin
Von Glarus nach Wisconsin
Als Cabaña Suiza bezeichnet man von Sennhütten inspirierte kleine Bauten in Mittel- und Südamerika. «Die Holzhäuschen sind allesamt sehr freie Interpretationen des Chalets, liegen aber oft in Landschaften, welche der Schweiz ähnlich sehen», heisst es dazu in der Ausstellung. Nord-, Mittel- und Südamerika waren im 19. Jahrhundert ein beliebtes Ziel für Auswanderer aus der Schweiz, die vor Armut und Hunger flüchteten und in Übersee ihr Glück zu finden hofften. Ein solcher Ort ist New Glarus im US-Bundesstaat Wisconsin: Im Jahr 1845 liessen sich rund 230 Kilometer nordwestlich von Chicago 108 Siedler aus Glarus nieder und begannen, hier Vieh- und Milchwirtschaft zu betreiben. Von den Schweizer Wurzeln des Ortes künden zahlreiche an Chalets erinnernde Bauten. Jedoch ist die beinahe durchgehend klischeehaft anmutende Architektur von New Glarus erst wenige Jahrzehnte alt. Dies lag weniger an der Herkunft der Gründer des Ortes als vielmehr an wirtschaftlichen Schwierigkeiten: «Denn nachdem der Ort unter Mitte des 20. Jahrhunderts unter ökonomischen Niedergang litt, entdeckte seine Bevölkerung das Image ihres kulturellen Erbes als einen möglichen Weg aus der Krise. So begannen 1950 einige lokale Geschäftsleute – einige aus dem Kanton Glarus stammend – ihre Geschäftsfassaden zu «verschweizern», um ihre Herkunft zu betonen», erfährt man in der von Architecture Office kuratierten Ausstellung I love Chalets (bis 18. Mai) im Bellerive ZAZ Bellerive Zentrum für Architektur Zürich, unweit der Villa Patumbah. Die Strategie ging auf, die kleine Schweiz von New Glarus avancierte schnell zum beliebten Ausflugsziel. Seit 1999 sorgen sogar spezifische Bauvorschriften dafür, dass die «traditionelle» Chalet-Ästhetik bewahrt bleibt.
Allerdings entsteht dabei eigentlich ungewollt Neues: Durch die importierten Bauelemente und lokalen Einschränkungen der Konstruktion und der Baumaterialien entsteht eine unerwartete, neue transkulturelle Umgebung, die visuell kulturelle Werte vermittelt, die weder dem amerikanischen noch dem europäischen Bild entsprechen, schreibt das ZAZ. Was dabei herauskommt, illustriert die Fotoserie mit Aufnahmen aus New Glarus von Brian Griffin. Die Bauten haben einen skurrilen Charme und ihre Beschriftungen wollen nicht so recht passen, etwa Brend's Blumenladen oder Krankenwagen Haus. New Glarus dient als Ausgangspunkt für die Ausstellung. Während die Schau in der Villa Patumbah eine Bestandsaufnahme bieten will, erforscht das ZAZ das Schweizer Chalet und seinen Wandel, der Fokus liegt vor allem auf Architektur und Bauweise. Ein separater Bereich thematisiert übrigens Andermatt und seine neuen rund 40 Chalets – inklusive des Luxushotels The Chedi. Die einzelnen Projekte werden jeweils mit Wettbewerbs- oder Projektvisualisierungen, Verkaufsanzeigen der Andermatt Swiss Alps und Aufnahmen der fertigen Bauten präsentiert. Auch hier wird der Wandel deutlich.

Aquarell einer Ansicht des Rosenlauigletschers mit Wellhorn und Wetterhorn um 1823 | Bild: Gabriel "Père" Ludwig Lory
ZAZ Bellerive – Zentrum Architektur Zürich
I love Chalets
Datum: Bis 18.5.2025
Ort: Höschgasse 3, Zürich
Öffnungszeiten: Mi-So 14–18 Uhr, Do 14–20 Uhr
Heimatschutzzentrum in der Villa Patumbah
Mythos Chalet
Datum: Bis 9.3.2025
Ort: Zollikerstrasse 128, Zürich
Öffnungszeiten: Mi, Fr, Sa 14–17 Uhr, Do, So 12–17 Uhr