Beschreibung
Gebäudeskulptur
Unweit des historischen Zentrums von Biel rüttelt ein von 0815 Architekten erschaffenes Bauwerk an den alten Gewohnheiten. Roh und einladend zugleich beherbergt das Gebäude heute zwei Wohnungen und zwei Künstlerateliers.
Der Auftraggeber ist ein Künstlerpaar. Er ist Maler, sie ist Bildhauerin und kreiert grossformatige Kunstwerke aus Stein. Auf dem Gelände ihres Grundstücks teilten sie sich eine 40 Quadratmeter grosse Garage, die als Werkstatt dient. Da diese zu klein war, um die grossen Skulpturen unterzubringen, musste sie umgebaut werden. Das Ehepaar beauftragte das Büro 0815 Architekten damit, eine geeignete, ihren Bedürfnissen entsprechende Lösung zu finden. Zunächst ging es darum zu entschieden, ob die alte Garage einfach umgebaut oder aber überbaut werden sollte. Angesichts der wenig stabilen Struktur wurde letztere Option jedoch nicht weiterverfolgt.
Unter Bezugnahme der lokalen Eigentümlichkeiten einerseits und der verschiedenen Umbaumöglichkeiten andererseits, entschieden sich die Planer letztlich dafür, die Garage abzureissen und ein neues Gebäude auf einem zwischen zwei Parzellen gelegenen Grundstück zu errichten. Auf der einen Seite des Grundstücks befinden sich die typischen kleinen Gebäude, wobei jedes seine eigene Handschrift trägt. Dieses kulturelle Erbe zeugt von der industriellen Vergangenheit, eigentlich von der Geschichte der Uhrmacherkunst, wobei auch im hinteren Teil des Hofes noch das ehemalige Gebäude eines Klavierbauers steht. Auf der anderen Seite befindet sich das Wohnhaus des Künstlerpaars. Die Aufteilung der nach dem Abriss freigewordenen Grundstücksfläche brachte deren eigentliches Potenzial erst richtig zum Vorschein. Die nun zu ihrer freien Verfügung stehenden 65 Quadratmeter gaben Raum für zahlreiche Projektideen und Entfaltungsmöglichkeiten. Laut Architekt Ivo Thalman, der den gesamten Prozess mitverfolgt hat, war es nicht leicht, sich auf nur eine Lösung zu beschränken. Dennoch ging es darum, mit diesem Projekt den gestellten Anforderungen gerecht zu werden. Dabei galt es auch, den urbanen Kontext zu berücksichtigen und eine Kontinuität im Strassenbild zu gewährleisten. Einige Fragestellungen, beispielsweise die Bauhöhe, waren entscheidend und geradezu richtungsführend für die Gestaltung des Gebäudes. Nach mehreren Anläufen entschied man sich für ein Gebäude mit einem möglichst schlanken Turm, grosszügige Volumen und vier Künstlerateliers.
Vertikalität zwischen Strassen
Das Interessante an diesem Projekt ist auch seine in die nähere Umgebung eingebettete Lage. Tatsächlich nutzten die Architekten die eher ungünstige Ausrichtung – man bedenke, dass das Grundstück lang und schmal ist – und entschieden sich dafür, die klassische Reihenfolge der Reihenhäuser in der Nachbarschaft umzukehren und das neue Gebäude senkrecht zu den beiden Strassen anzuordnen. Diese andersartige Setzung war für die Planer Grund genug, auch die Fassadenmaterialien im Hinblick auf die Einfachheit ihrer Umsetzung und ihre Haltbarkeit auszuwählen. Diese konstruktive Stringenz nimmt auch Bezug auf die imaginäre Präsenz eines Silos, der einst in der Umgebung stand. Aus diesem Grund wurde der neue Turm mit einer Hülle aus Stahlblech beziehungsweise gewelltem Cortenstahl ummantelt. Dieses Material rostet mit der Zeit und verleiht dem Gebäude einen orangefarbenen Ton. Der Baukörper sticht aufgrund seiner Farbe, seiner Textur und seiner Grösse heraus und betont den architektonischen Bruch zu den umgebenden Gebäuden. Das skulpturale Gebäude ist etwa 17 Meter hoch und erstreckt sich über viereinhalb Stockwerke. Insgesamt gesehen unterstreicht dieser «neue» architektonische Eingriff auch den gegenwärtigen Strukturwandel in der Region.
Räume zur gemeinsamen Nutzung
Um Material und Platz zu sparen, wurde der Baukörper in Holzrahmenbauweise ausgeführt. Die Installations- und Versorgungsschächte wurden in die Wände eingelassen, sodass der Boden frei bleibt. Das Projekt zeichnet sich aber auch durch die Ausgestaltung der Innenvolumen und den fliessenden Übergang der Räume aus. Wenn auch der brutalistische Geist sehr gegenwärtig ist, so fiel für die Innenräume die Wahl auf eine schlichte und praktische Ausgestaltung mit Dreischicht-Paneelen, um so eine wärmere Atmosphäre zu schaffen. An der Nordseite wurden eigens dafür entworfene Schiebefenster eingebaut. Wie eine doppelte Haut sind diese beweglich und können mechanisch hinter die Fassadenplatte verschoben werden. Dadurch, dass sie optisch in die Aussenhaut integriert wurden, tragen sie zum abstrakten Charakter des Gebäudes bei. Insgesamt entstanden vier Einzimmerwohnungen gleicher Grösse von jeweils 60 Quadratmetern. Das von der Bildhauerin genutzte Erdgeschoss erstreckt sich über zwei Ebenen. Auf dem Dach ist eine Gemeinschaftsterrasse, die einen herrlichen Blick auf die Stadt bietet. Dort befinden sich auch ein Badezimmer und eine Aussenküche zur gemeinschaftlichen Nutzung, geschützt durch ein Vordach.
Das Besondere dieser Konstruktion besteht darin, gemeinschaftlich genutzte Räume für die Bewohner geschaffen zu haben. Durch seine Volumetrie trägt das Gebäude zu einem regen Austausch bei. Ein weiteres Beispiel ist die externe feuerfeste Metalltreppe, die alle Ebenen miteinander verbindet. Die Treppenpodeste des Zugangs wurden bewusst gross geplant. Dadurch eignen sie sich auch als Ort, an dem Bewohner sich treffen und sich austauschen können. Diese überraschende Vielfalt an architektonischen Vorschlägen hat letztendlich dazu geführt, dass die Planer die Bewohner dazu ermutigen, sich durch die Räume hindurch zu bewegen. Ging es anfangs darum, vier Werkstätten zu schaffen, so sind heute nur zwei davon vollständig der Kunst gewidmet, die anderen beiden werden als Wohnungen genutzt.
Text: Renzo Stroscio
Erstveröffentlichung: Magazin der Schweizer Baudokumentation 2020–2