Arc Award 22: Urgent Agendas – Interview mit der Jury

Veröffentlicht am 13. Dezember 2022 von
Jørg Himmelreich

Um die besten Projekte zu bestimmen, bereiste die Jury einen Tag lang eine von ihr bestimmte Vorauswahl von Bauten. Im Bild: Anne Kaestle, Manuel Herz und Jeffrey Huang folgen den Erklärungen von Philipp Knorr.

Um die besten Projekte zu bestimmen, bereiste die Jury einen Tag lang eine von ihr bestimmte Vorauswahl von Bauten. Im Bild: Anne Kaestle, Manuel Herz und Jeffrey Huang folgen den Erklärungen von Philipp Knorr.

Um die besten Projekte zu bestimmen, bereiste die Jury einen Tag lang eine von ihr bestimmte Vorauswahl von Bauten. Im Bild: Anne Kaestle, Manuel Herz und Jeffrey Huang folgen den Erklärungen von Philipp Knorr.

Die fortschreitende Digitalisierung, Forderungen nach einer nachhaltigeren Bauproduktion und Massnahmen gegen wachsende soziale Ungleichheiten sind derzeit zentrale Themen im Architekturdiskurs. Reagieren die Architekturschaffenden mit ihren Projekten auf diese Urgent Agendas?

Anne Kaestle Wir erleben derzeit die vielleicht grössten Veränderungen seit der Industrialisierung. Noch sind mir die Antworten oft zu einfach, zu pauschal und zu sehr auf die Materialebene bezogen. Mit lauter kompakten Holzhäusern ist es nicht getan. Es geht immer auch darum, wie wir das Zusammenleben neu erfinden und dafür ein gestalterisches Repertoire entwickeln können und um die Frage, wie sich der gesellschaftliche Wandel in der Gestalt von Architektur verfestigen wird. Im Moment kommt es mir eher vor wie in der Phase, als ein Automobil noch aussah wie eine Kutsche ohne Pferd. Bisherige Standards müssten noch radikaler hinterfragt werden und das fängt natürlich bei den Bestellungen an. Ich bin zugleich davon überzeugt, dass das Schlagwort «Nachhaltigkeit» irgendwann wieder verschwinden wird, weil sie schlichtweg zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Architektur als gestalterischen Auftrag zu begreifen, das bleibt.

In der Kategorie Digitalisierung wurden nur wenige Projekte eingereicht. Hinkt die Bauproduktion der allgemeinen Digitalisierung hinterher?

Jeffrey Huang In diesem Jahr war die Zahl der Beiträge in der Kategorie Digitalisierung tatsächlich gering. Ich denke, das liegt nicht nur daran, dass das Bauwesen weniger digitalisiert ist als andere Branchen, sondern auch daran, dass Digitalisierung in der Architektur kein Selbstzweck ist. Aber sie macht neue Prozesse und Lösungen möglich. Noch sind Projekte, bei denen es um die «Digitalisierung um der Digitalisierung willen» geht, selten. Cedric Price warf die entscheidende Frage bereits 1966 auf: «Technologie ist die Antwort, aber was genau ist die Frage?» Auch wenn die digitale Technologie in verschiedene Bereiche der Architektur eingedrungen ist, müssen wir uns kontinuierlich fragen: Was ist das Problem, das sie lösen soll? Und wie kann sie uns helfen, das zu tun, was vorher unmöglich war, um dieses Problem zu lösen? Die Digitalisierung im Zusammenhang mit dem sozialen Engagement und Fragen der Nachhaltigkeit zu diskutieren, war äusserst interessant. Wie kann sie dazu beitragen, diese Themen auf neue, tiefgreifende Weise anzugehen? Langsam und allmählich werden die Auswirkungen der Digitalisierung in der Architektur spürbar, obwohl es unter Architekturschaffenden eher grosse Vorlieben für Lowtech-Ansätze und die Unmittelbarkeit der Materialien gibt. Dennoch bin ich zuversichtlich, dass wir in den nächsten Jahren mehr Projekte sehen werden, an denen digitale Planung und Produktion einen wichtigen Anteil haben. Wir freuen uns auf experimentellere Projekte, die nicht blosse Prototypen, sondern Gebäude sind. Hoffentlich nutzen sie das kreative Potenzial für Ziele, die von Bedeutung sind, das heisst für eine bessere, sozial engagiertere und nachhaltigere gebaute Umwelt.

Häufig wird gefordert, dass Architektur «politisch» sein soll. Habt ihr Ansätze dazu entdecken können?

Manuel Herz Wenn wir Politik frei nach Hannah Arendt als gesellschaftliches Handeln verstehen, dann sollten Archi­tekturschaffende sich in ihrer Verantwortung gegenüber der ganzen Gesellschaft und ihrer zukünftigen Entwicklung verstehen - also nicht nur gegenüber den Bauherrschaften und ihren Interessen. Gegenüber den 1990er- und 2000er-Jahren, in der Architektur häufig als «L'art pour L'art» betrieben wurde, erkennen wir in der heutigen Architekturproduktion - und auch in den eingereichten Projekten - immer häufiger ein wachsendes Verantwortungsbewusstsein. Viele Bauten, die wir uns angeschaut haben, hatten den Anspruch der Inklusion und der Nachhaltigkeit, bei aller Skepsis gegenüber dem Begriff, wie Anne bereits ausgeführt hat, und erfüllten diesen auch. Aber wie so oft müssen wir auch diese Begrifflichkeiten - des Politischen, der Inklusion und so weiter - hinterfragen: Wie weit reicht zum Beispiel diese Inklusion, insbesondere in der sehr wohlhabenden Schweiz? Droht Nachhaltigkeit zu einem Formalismus und zu einer Ästhetik zu werden?

Wir haben bewusst die drei Kategorien Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Soziales Engagement von einer gemeinsamen Jury beurteilen lassen - überzeugt davon, dass es richtig und wichtig ist, sie als Spannungsfelder zu begreifen, die sich gegenseitig beeinflussen. Gab es Überlappungen?

Manuel Herz Ja, diese Überschneidungen zeigten sich bereits daran, dass viele Projekte in mehr als einer der drei Kategorien eingereicht wurden. Am stärksten war dies bei Soziales Engagement und Nachhaltigkeit der Fall. Das mag auch mit einer grösseren Sensibilität zu tun haben: Wenn man eine wahrhaftige Nachhaltigkeit erzielen möchte, dann zeigt das Projekt meist auch ein gewisses soziales Engagement und umgekehrt. Gleichzeitig suchten wir auch nach Projekten, die in ihrer jeweiligen Kategorie beispielhaft sind, ohne dass sie dies zu offensichtlich als Ästhetisierung zur Schau tragen: Muss ein nachhaltiges Bauwerk einer bestimmten Ästhetik folgen? Muss ein Projekt in der Kategorie Digitalisierung die Ästhetik von parametric design haben? Gerade in dieser Kategorie schien das häufig der Fall zu sein, was daran liegen könnte, dass es sich immer noch um eine relativ neue Technologie handelt. Gerade aus diesem Grund ist ein gegenseitiges Befruchten sehr wünschenswert. Denn letztendlich geht es um «gute Architektur», wie auch immer man das bewerten kann, und diese beschränkt sich nun mal nicht auf einzelne Kategorien.

Manuel Herz

ist Inhaber des Büros Manuel Herz Architekten in Basel. Bis 2020 war er Professor für Stadtforschung an der Universität Basel und übte diverse Lehrtätigkeiten an der ETH Zürich sowie der Harvard Graduate School of Design aus.

Anne Kaestle

gründete 2007 zusammen mit Dan Schürch das Architekturbüro Duplex Architekten. Sie ist Mitglied der Architektenkammer Hamburg, der Stadtbildkommission in Baden und des Gestaltungsbeirates in Linz. Zudem amtet sie regelmässig als Jurymitglied bei Architekturwettbewerben.

Jeffrey Huang

ist Direktor des Institutes für Architektur an der EPFL. Er ist zudem Head of Media x Design LAb, Professor für Architektur und Digitale Medien an der EPFL und Co-Gründer der strategischen Design Agentur Convergeo.

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