Das Leben einfangen – Yves André über seine Philosophie als Architekturfotograf

Veröffentlicht am 23. April 2024 von
Marianne Kürsteiner

Immer wieder schreibt André mit Fotos Geschichten oder bildet Prozesse ab: die Bilder der Altissimo-Marmorsteinbrüche beispielsweise, deren Steine Gestalt annehmen und die Landschaft neu formen; oder die Gletscherschmelze, die er über Jahre hinweg verfolgt und so die Entwicklung der globalen Erwärmung dokumentiert hat. | Foto: Yves André

Immer wieder schreibt André mit Fotos Geschichten oder bildet Prozesse ab: die Bilder der Altissimo-Marmorsteinbrüche beispielsweise, deren Steine Gestalt annehmen und die Landschaft neu formen; oder die Gletscherschmelze, die er über Jahre hinweg verfolgt und so die Entwicklung der globalen Erwärmung dokumentiert hat. | Foto: Yves André

Immer wieder schreibt André mit Fotos Geschichten oder bildet Prozesse ab: die Bilder der Altissimo-Marmorsteinbrüche beispielsweise, deren Steine Gestalt annehmen und die Landschaft neu formen; oder die Gletscherschmelze, die er über Jahre hinweg verfolgt und so die Entwicklung der globalen Erwärmung dokumentiert hat. | Foto: Yves André

Yves André ist bekannt für seine eigenwillige Art, Architektur darzustellen. Zudem öffnen seine Bilder häufig neue Blickwinkel – beispielsweise auf unser kulturelles Verständnis bezüglich des Verhältnisses von gebauter Umwelt und Natur. Wer ist dieser Fotograf, der mit seinen Aufnahmen Geschichten erzählt? Welche Philosophie leitete ihn auf seinem Weg? Diese und andere Fragen beantwortete Yves André im Gespräch mit Marianne Kürsteiner.

Text: Marianne Kürsteiner

Fotos: Yves André & Marianne Kürsteiner

War die Fotografie ein Kindheitstraum von dir?

Ich habe immer gern fotografiert. Als Bub besass ich eine Kodak-Instamatic-Kamera. Mit einem Freund, dem Sohn des Filmemachers Henri Brandt, wollte ich einen Bildband über Vögel erstellen. Also zog ich los. Aber Vogelfotos ohne Teleobjektiv zu machen, ist unmöglich. Das waren aber bloss intuitive Versuche. Damals dachte ich nicht daran, jemals Fotograf zu werden. Ich hatte generell noch keine Idee, was ich im Leben machen wollte.

Normalerweise reisen Fotograf*innen gerne und zeigen den Menschen die Welt. Du hingegen bist eher verwurzelt.

Ja, ich habe überwiegend in der Westschweiz fotografiert. Ich habe Kinder und versuche daher nicht zu häufig und zu lange zu reisen. Zudem stört es mich, wenn europäische Fotograf*innen auf andere Kontinente geschickt werden. Man sollte besser mit lokalen Fotograf*innen arbeiten und sie ihre Visionen zeigen lassen. Ich war froh, dass ich die Westschweizer Architekt*innen ins Gespräch bringen konnte, denn über sie wurde damals nicht viel gesprochen.

In Zürich habe ich eine Reportage über das Fussballstadion Letzigrund von Bétrix & Consolascio und Frei & Ehrensperger Architekten gemacht. Mit Marie-Claude Bétrix blieb ich in Kontakt. Sie fragte mich, ob ich an einem Wettbewerb des Magazins «L’Hebdo» mit dem Thema «Architecture à aimer» teilnehmen wolle. Ich reichte Bilder einer Fabrik – ebenfalls von Bétrix & Consolascio – ein und gewann den zweiten Preis.

Im neuen Viertel Belle-Terre in Thonex haben unter anderem Atelier Bonnet & Cie 2022 das auf dem Bild gezeigte Haus Mont-Blanc et Salève errichtet. Es bietet 174 Wohnungen und Gemeinschaftsräume. Yves André hat versucht, mit seinen Fotos den Alltag der Menschen abzubilden und vor allem das Leben auf der zentralen Esplanade einzufangen. | Foto: Yves André

Im neuen Viertel Belle-Terre in Thonex haben unter anderem Atelier Bonnet & Cie 2022 das auf dem Bild gezeigte Haus Mont-Blanc et Salève errichtet. Es bietet 174 Wohnungen und Gemeinschaftsräume. Yves André hat versucht, mit seinen Fotos den Alltag der Menschen abzubilden und vor allem das Leben auf der zentralen Esplanade einzufangen. | Foto: Yves André

Im neuen Viertel Belle-Terre in Thonex haben unter anderem Atelier Bonnet & Cie 2022 das auf dem Bild gezeigte Haus Mont-Blanc et Salève errichtet. Es bietet 174 Wohnungen und Gemeinschaftsräume. Yves André hat versucht, mit seinen Fotos den Alltag der Menschen abzubilden und vor allem das Leben auf der zentralen Esplanade einzufangen. | Foto: Yves André

Wie wäre es jedoch mit einem internationalen Austausch zwischen Fotograf*innen?

Das hat auf jeden Fall einen Wert. Ich habe einen tunesischen Freund, dessen Bruder dort Architekt ist. Auf der Expo.02 sagte er mir, dass er gerne sehen würde, wie es auf einer Schweizer Baustelle zugeht. Obwohl viel Papierkram erledigt werden muss, damit jemanden aus Tunesien in die Schweiz reisen darf, gelang es mir, ihn einzuladen. Er konnte meine Fotos von Baustellen, die Reportage über die Expo.02 und die Projekte von Jean Nouvel in Murten sehen. Er war überwältigt. Ich finde es nicht richtig, dass Menschen aus so vielen Ländern nicht frei reisen können. Das Internet wurde damals in Tunesien zensiert und es gab keine Architekturzeitschriften. So fand wenig Austausch mit der übrigen Welt statt, beispielsweise betreffend nachhaltiger Architektur, während hier die Debattezur Zeit der Landesausstellung bereits Fahrt aufgenommen hatte. In Tunesien standen damals lediglich kommerzielle Gebäude im Fokus, die es überall aufWelt zu sehen gab.

Ich erwiderte seinen Besuch und habe in Tunesien kostenlos für ihn Fotos gemacht. Aber wie bereits gesagt: Besser wäre es, wenn diese Aufträge an einheimische Fotograf*innen gingen.

Comédie de Genève bei Nacht | Foto: Yves André
Comédie de Genève bei Tag | Foto: Yves André

Wer hat dich beruflich am meisten geprägt?

Fotografen wie Ezra Stoller, Werner Bischof, Bernd und Hilla Becher, auch Balthasar Burkhard. Es gibt so viele! Und nicht zu vergessen Lucien Hervé – den Fotografen von Le Corbusier. Ich mag Fotograf*innen und Architekt*innen, die sich über die Ästhetik hinaus mit dem beschäftigen, was sie tun. In meiner Architekturfotografie ist der Raum das Wichtigste; die Texturen spielen nur die zweite Geige. Ich bin nicht so sehr ein Detailfotograf. Lieber zeige ich, wie sich ein Projekt in seinen Kontext einfügt.

Arbeitest du in Absprache mit anderen Fotograf*innen?

Ich bin auf Bildhonorare angewiesen, um meine Dokumentationen zu betreiben. Leider ist es nicht einfach mit den Verlagshäusern. Manchmal rufe ich Kolleg*innen in Zürich an, um über Abdruckhonorare zu sprechen. Als wirksameren Weg haben wir Architekturfotograf*innen nun eine Vereinigung gegründet, um unsere finanziellen Interessen gemeinsam zu vertreten.

Comédie de Genève | Foto: Yves André

Comédie de Genève | Foto: Yves André

Comédie de Genève | Foto: Yves André

Wie würdest du deine Philosophie beschreiben?

Ich verorte mit meinen Fotografien die Gebäude, die man mir abzubilden in Auftrag gibt. Iwan Baan sagte vor kurzem in einem Interview, dass er versuche, das «Warum, Wie und Wann» darzustellen. Sie leiten auch mich, denn diese drei Fragen geben Antwort auf alles. Ich versuche, Architekt*innen davon zu überzeugen, Menschen in ihren Bildern zu zeigen. Das ist nicht einfach, denn die meisten wollen, dass alles so rein wie möglich aussieht.

Das heisst, du möchtest das Leben zeigen und verstehst Architektur eher als eine Bühne denn als Akteurin?

Werner Bischof hat in Japan ein berühmtes Foto gemacht: zwei Mönche, die aus einem Kloster kommen. Es schneit, und der Moment ist perfekt, weil man den Eindruck hat, dass alle Kräfte des Winters in diesem Bild stecken. Das ist es, was ich auf bescheidene Weise zu tun versuche. Ich hatte das Glück, Fotos vom Abriss des Collège de la Maladière in Neuchâtel und dessen Ersatzneubau und von den Baustellen der Museen der Plateforme 10 in Lausanne machen zu können. In diesen Bildern gibt es Freude und Leben. Solche Bilder kann man natürlich inszenieren. Ich selber habe jedoch nie Leute gebeten, für Fotos zu posieren.

Die Comédie in Genf von FRES Architectes ist ein zeitgemässer Theaterbau mit zwei Sälen und grosszügigen Foyers. Es wurde versucht, die klassische Trennung in Publikumsbereiche und Bühne so gut wie möglich aufzulösen, um einen lebendigen, pluralen und dynamischen Ort der Interaktion zu schaffen. | Foto: Yves André

Die Comédie in Genf von FRES Architectes ist ein zeitgemässer Theaterbau mit zwei Sälen und grosszügigen Foyers. Es wurde versucht, die klassische Trennung in Publikumsbereiche und Bühne so gut wie möglich aufzulösen, um einen lebendigen, pluralen und dynamischen Ort der Interaktion zu schaffen. | Foto: Yves André

Die Comédie in Genf von FRES Architectes ist ein zeitgemässer Theaterbau mit zwei Sälen und grosszügigen Foyers. Es wurde versucht, die klassische Trennung in Publikumsbereiche und Bühne so gut wie möglich aufzulösen, um einen lebendigen, pluralen und dynamischen Ort der Interaktion zu schaffen. | Foto: Yves André

Ist Fotografie mehr Kunstform oder Technik?

Die Glaskünstlerin Françoise Bolli spielt mit Licht. Sie ist längst über den Status einer Handwerkerin hinausgewachsen und zu einer Künstlerin geworden. Ich glaube, das ist auch bei mir der Fall. Viele meiner Arbeiten sind sehr persönlich. Sie kreisen zum Beispiel um Marmor, die Alpen und Voralpen, Courbet und Hodler, das Verhältnis von Architektur und Landschaft oder die Uhrenindustrie im Jura.

Aber viele Architekt*innen machen sicher Vorgaben, wie sie ihre Arbeit fotografiert haben möchten.

Ich würde sehr begrüssen, wenn ein*e Architekt*in zu mir sagen würde: «Du kannst machen, was du willst. Ich lasse dir freie Hand». Leider ist das selten.

Welchen Rat würdest du jungen Architekturfotograf*innen geben?

Sie sollten so offen wie möglich sein und so viel wie möglich von der Welt um sich herum beobachten. Und sie sollten die Arbeiten verschiedener Fotograf*innen sehen – ob Architekturfotograf*in oder nicht. Sie können sich von Cartier-Bresson, Valérie Belin, Georges Rousse und vor allem von Burkhard und Bischof und anderen inspirieren lassen.

Und sie müssen kritisch sein in Bezug auf das, was man von ihnen verlangt. Es gilt zu verstehen, wie sich ein Projekt in einen Ort einfügt, warum es dort ist und welche Veränderung es bewirken wird. Ich erinnere mich, wie ich das Architekturbüro RDR Architectes in Lausanne anrief und vorschlug, eine*n Fotograf*in zu beauftragen, den Bau des Espacité-Gebäudes in La Chaux-de-Fonds zu begleiten. Mir war klar, dass das Gebäude die Stadt und ihr Image komplett verändern würde. Dies geschah dann zusätzlich mit einer Ausstellung und der Veröffentlichung eines Buches.

Und auf technischer Ebene?

Da ist es das wichtigste, dass Fotograf*innen die Perspektivierung des Bildes beherrschen. Man muss die auf Architekturfotografie spezialisierten Geräte verstehen, die es uns ermöglichen, die Vision eines Projekts zu erfassen und zu transformieren.

Manche Fotograf*innen fotografieren Architektur auf eine sehr ästhetisierende Art und Weise. Sie zeigen beispielsweise komplett verglaste Gebäude in der Dämmerung, wodurch sowohl das Innere als auch das Äussere sichtbar werden. Solche Bilder beeinflussen Kund*innen und Architekturstudent*innen bei ihren Entscheidungen. Im Alltag werden solche verglasten Räume bei der Nutzung jedoch meistens mit Vorhängen verschlossen. Daher rate ich davon ab, Architektur des Bildes wegen zu ästhetisieren, sondern plädiere dafür realistisch zu portraitieren, damit Gebäude produziert werden, die für ihre Bewohner*innen im Alltag angenehm sind.

Yves André vor seinem Foto eines Marmorsteinbruchs in Italien | Foto: Marianne Kürsteiner

Yves André vor seinem Foto eines Marmorsteinbruchs in Italien | Foto: Marianne Kürsteiner

Yves André vor seinem Foto eines Marmorsteinbruchs in Italien | Foto: Marianne Kürsteiner

Biografische Notizen

Yves André wurde in Genf geboren und hat sich im Val-de-Travers niedergelassen. Fotograf wurde er auf Umwegen. Der gelernte Bauzeichner und Geometer arbeitete einige Jahre in der Vermessung und lebte seine Leidenschaft als Gitarrist aus. Als sich das erste Kind ankündigte, verkaufte er sein Instrument und schaffte sich eine Fotokamera an, mit der er fortan unterwegs war. Er erhielt eine Anstellung als Fotograf und Zeichner beim Archäologischen Museum in Neuchâtel. Dort dokumentierte er unter anderem Ausgrabungen und nahm selbst an ihnen teil. Fortan arbeitete André zu je 50 Prozent im Archäologiemuseum und 50 Prozent als Freiberufler. Während dieser Tätigkeiten lernte er Laurent Geninasca kennen. Dieser war gerade dabei, eine Architekturausstellung zum 700. Geburtstag der Eidgenossenschaft auf die Beine zu stellen. Geninasca engagierte André mit der Erstellung des Ausstellungskatalogs.

Das Handwerk des Fotografen eignete André sich autodidaktisch an. «Ein Freund hatte an einer amerikanischen Fotoschule namens ‹Famous Photographers› ein Fernstudium absolviert und gab mir ein Dutzend Ordner. Die Lehrkräfte waren renommierte Fotografen wie Richard Avedon und Ezra Stoller, die den Lernenden ihr Wissen und ihr Know-how weitergaben.» André hatte zwar keine Möglichkeit, mit den Dozent*innen zu kommunizieren oder bewertet zu werden, doch nutzte er das Material als Startpunkt und erweitere danach kontinuierlich sein Wissen im Selbststudium.

Die Expo.02 wurde zu einem weiteren Meilenstein. Yves André wollte sie dokumentieren – vorher, während und danach. Dafür ersuchte er beim Komitee um einen entsprechenden Auftrag, den er schliesslich nach vielen Verhandlungen auch erhielt. Heute sind seine Bilder von der Landessaustellung ein wichtiges Zeitzeugnis dieser Arteplages.

Mit der Lancierung der Waadtländer Auszeichnung «Distinction Romande» für Architektur erhielt Yves André viele Aufträge von Architekt*innen. Anschliessend realisierte er ein Buch, das er anlässlich einer Ausstellung in Freiburg zum Thema Landschaft in Auftrag gegeben hatte. Es setzte sich mit paysages occupés – also besetzten Landschaften – auseinander. Diese dokumentarische Arbeit bietet eine andere Sicht auf das Verhältnis von Architektur und Natur in Freiburg.

Der Text wurde in Arc Mag 2024–3 erstveröffentlicht.

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