KANAL – Centre Pompidou

9 von 21

 
1000 Brüssel,
Belgien

Vom Wasserkanal Brüssel-Schelde aus werden die Botschaften, die über die hinterleuchtete Pixelschrift im Bereich der Attika an die  Stadt gerichtet werden, besonders gut zu sehen sein. Das Obergeschoss (Piano Nobile) ermöglicht den Blick entlang des «Nave», den  über 200 Meter langen Gang  des Mittelschiffs mit seiner filigranen Stahlkonstruktion. Die zahlreichen Freiflächen  im Bereich des Piano Nobile bieten vor allem der regionalen Kulturszene Räume zur Aneignung. Als öffentliche Flaniermeile erlauben sie den Besuchern vielfältige Ein-  und Ausblicke in die Ateliers und Werkstätten. Die grosse Bibliothek und der Lesesaal des Architekturzentrums Civa werden mit Glastrennwänden von den offenen Bereichen des Piano Nobile abgetrennt. Damit bleibt die Fabrikstruktur auf die gesamte Fläche hin erlebbar. Nach der Entfernung der eingezogenen Parkdecks im  Zuge des Umbaus wird der lichtdurchflutende Innenraum des Showrooms seine ursprüngliche Raumwirkung wieder erhalten.  Als multifunktionaler Raum wird  er wohl am stärksten nach Aussen kommunizieren.

Projektdaten

Basisdaten

Lage des Objektes
Place de l’Yser, Willebroekkaai 6, 1000 Brüssel, Belgien
Projektkategorie
Fertigstellung
01.2023
Links

Gebäudedaten nach SIA 416

Stockwerke
6 bis 10
Anzahl Kellergeschosse
2
Nutzfläche
40'000 m²
Gebäudekosten (BKP 2)
135,0 Mio. CHF

Beschreibung

Die ehemalige Autofabrik Citroën Yser in Brüssel wandelt sich gegenwärtig zu einem multifunktionalen Kunst- und Kulturzentrum. Dabei wird die alte Nutzungsstruktur der fordistischen Autoproduktion, durch das Architektenkollektiv Atelier Kanal, bestehend aus «NoAarchitecten» Brüssel, EM2N Zürich und Sergison Bates architects London, gekonnt neu interpretiert. 

Kultur statt Fliessband
Die 1934 von den belgischen Architekten Alexis Dumont und Marcel Van Goethem und dem Franzosen Maurice-Jacques Ravazé errichtete Fabrik war mit seinen 16'500 Quadratmetern die grösste ihrer Art in Europa. Um die grossen stützenfreien Hallen zu erzeugen, wurde die filigrane Glas-Stahl-Fachwerk-Konstruktion der Werkstätten wie bei einer Kirche mit einem zentralen Längsschiff in der Mitte und Seitenschiffen konzipiert. Dabei kamen acht rechtwinkelig angesetzte Paralleldächer zum Einsatz. Vor allem der markante lichtdurchflutete Showroom, ein Glaspalast mit abgerundeter Schmalseite, zeigt auch heute noch die charakteristischen Architekturmerkmale seiner Zeit: Flexibilität, Horizontalität, Funktionalität, Transparenz und Offenheit. Eigenschaften, die nach dem Rückbau der im Zweiten Weltkrieg im Gebäude eingezogenen Parkplatzebenen wieder erlebbar sein werden.
Mit der prominenten Lage des Showrooms an der Ecke des Place de l’Yser und der öffentlichen Dachterrasse mit Restaurant wird die «Kathedrale der Moderne» ihrer ursprünglichen Bedeutung wieder gerecht. Einst bildete sie den technischen Fortschritt ab. Nun soll daraus ein Symbol für das künftige Kunst- und Kulturzentrum entstehen.

Das Entwurfskonzept – fünf zentrale Ideen
Die grosse Herausforderung bei diesem Projekt ist es, den bestehenden Zustand zu bewahren und dabei gleichzeitig einen Ort zu schaffen, der alle Möglichkeiten eröffnet. Dazu fordern die Architekten einen «radikalen Optimismus dem Bestand gegenüber» ein, bei dem sich das Raumprogramm an der Vielfalt der räumlichen Situationen orientiert. Dabei sollen ein möglichst grosser Teil der bestehenden Struktur erhalten bleiben, Bauteile nach Möglichkeit wiederverwendet und der pragmatische industrielle Charakter des Ortes weiterentwickelt werden. Nicht zuletzt ist dies auch ein Beitrag zur Nachhaltigkeit. Alle Raumnutzungen, die besondere klimatische Anforderungen und unterschiedliche Raumhöhen brauchen, werden auf drei frei in die bestehende Struktur gesetzte Baukörper als «Häuser im Haus» konzentriert. Das betrifft vor allem die klassischen Ausstellungs- und Archivräume. Mit diesem Konzept konnte sich das Architektenkollektiv aus insgesamt 92 Bewerbern für die zweite Runde des Wettbewerbs im Jahr 2017 qualifizieren. Schliesslich stach ihr Beitrag die Vorschläge von sechs weiteren Wettbewerbsteilnehmern aus. In der Schlussrunde im Jahr 2018 waren neben dem Kollektiv von Atelier Kanal Teams von 51N4E / Caruso St John Architects; ADVVT (architecten de Vylder Vinck Taillieu) / AgwA / 6A; Diller Scofidio + Renfro / JDS Architects; Lhoas & Lhoas Architects/ Ortner & Ortner; Office / Christ & Gantenbein und das Büro OMA vertreten.
Das Atelier Kanal formulierte fünf zentrale Entwurfsideen: die Reaktivierung des Showrooms im Aussenbereich als weit sichtbares Landmark. Die horizontale Erweiterung mittels programmierbarer hinterleuchteter Pixelschrift an der umlaufenden Attikazone des Werkstattgebäudekomplexes, die künftig mit der Stadt kommunizieren soll. Die öffentliche interne Erschliessung verläuft entlang der Achse des zentralen Mittelschiffs. Als frei bespielbare Strasse verbindet sie den Showroom mit den ehemaligen Werkstätten. Die kreuzende Ost-West-Achse wird das Gebäude künftig zum Wasserkanal Brüssel-Schelde (Willebroekse Vaart) hin erweitern. Über die bestehenden zweispurigen Rampen gelangt man ins erste Obergeschoss. Als Bindeglied dieser öffentlichen Erschliessungsachsen zu den neu in Bestand gesetzten drei Raumvolumen fungiert das frei zugängliche Piano nobile im ersten Obergeschoss. Hier befindet sich eine offene Produktionsebene samt Flaniermeile, Café, Printshop und Werkstätten. Hier können verschiedene Institutionen, Verbände und Künstler der regionalen Kulturszene den Raum aneignen, um in gegenseitige Interaktion und einen freien Austausch mit der Öffentlichkeit zu treten. Diese Freifläche entspricht dem ursprünglich offenen Charakter der bestehenden Struktur der Werkstatt. Dort, wo eine Abtrennung vorwiegend aus akustischen Gründen notwendig ist, wie beispielsweise in der Bibliothek des Architekturzentrums Civa und den Atelierräumen, werden je nach Anforderung Glastrennwände oder unterschiedlich beplankte Trockenbauwände gesetzt. Der öffentliche Bereich soll mit Metallpaneelen beplankt werden, um den industriellen Charme des Gebäudes zu erhalten.

Die drei neuen Volumen
Das grösste der drei Volumen nimmt mit rund 12'000 Quadratmetern das Centre Pompidou – Museum of Modern and Contemporary Art – ein. Hier werden die klimatisierten Ausstellungsräume auf vier Geschosse verteilt und ergänzen das bestehende Raumangebot. Im kleinsten Volumen mit rund 7000 Quadratmetern ist das Architekturzentrum Civa mit seinem Archiv im Obergeschoss und dem Museum im Erdgeschoss untergebracht. Im sogenannten «Le Rassembleur», der Verwaltungszentrale der Betreiberinstitution Fondation Kanal, befindet sich neben den Büros und Co-Working-Spaces ein Auditorium für 400 Personen.
Eine Stahlkonstruktion überspannt die stützenfreien Ausstellungsräume der drei Neubauvolumen. Als Auflage dienen dafür zwei in Ortbeton-Massivbauweise konzipierte Erschliessungskerne mit Nebenräumen, Aufzügen und Treppen. Im Innenraum werden die Wände mit Tonziegeln («Clayblockwork») beziehungsweise Backsteinen («Claybrickwork») verkleidet. Die Aussenhüllen der drei neuen Gebäudeteile werden thermisch gedämmt und mit einer opaken Glasfassade verkleidet. Die gesamte Haustechnik der «Kulturstadt» wird auf die Untergeschosse und die Dächer der drei Kubaturen konzentriert, sodass es zu keinen grösseren Eingriffen in den Bestand kommt. Auf den bestehenden Satteldächern werden zudem Photovoltaikmodule montiert.

Start der Bauarbeiten 
Bereits während der Planung fand eine umfassende Bauforschung der Baustruktur, Oberflächen und Farbigkeit statt. Nach dem Ende der temporären Nutzung seitens des Centre Pompidou mit der Prelude «Kanal Brut» vom Mai 2018 bis Juni 2019, die den Auftakt für die zehnjährige Zusammenarbeit mit der Fondation Kanal bildete, wurden sämtliche Einbauten, Kontaminationen und Bodenverunreinigungen entfernt. Für 2020 sind die Aushub- und Abbrucharbeiten inklusive temporärer Sicherung und Verstärkung der bestehenden Pfahl-Fundationen mittels Jet-Grouting, einer Bodeninjektionstechnik, geplant. Parallel zu den für 2021 geplanten Rohbauarbeiten soll die «curtain wall», die Vorhangfassade, restauriert werden.
Die Fertigstellung dieses einzigartigen Kunst- und Kulturzentrums, das durch seinen Umgang mit dem ursprünglichen Bestand besticht, ist für 2023 geplant. Mit seiner temporären Nutzung im Vorjahr hat Kanal und das Centre Pompidou schon die Nachnutzung vorweggenommen und das beeindruckende Spektrum der Bespielungsmöglichkeiten für die künftigen 40 000 Quadratmeter aufgezeigt.

Museum of Modern and Contemporary Art: 12'000 m²
Civa: 7000 m²
öffentliche Nutzungen: 12 000 m²
gemeinsam genutzte Flächen: 9000 m²
Bauherrschaft: Gouvernement de la Région de Bruxelles-Capitale / Stadt Brüssel Vertreten durch: Fondation Kanal

Der Text von Petra Kickenweitz wurde für das Magazin der Schweizer Baudokumentation 2020–3 verfasst.

192139506