Form Follows Love. Intuitiv bauen – von Bangladesch bis Europa und darüber hinaus

Veröffentlicht am 09. Juli 2025 von
Nina Farhumand

Kann eine Wand lieben? Kann ein Gebäude verbinden, heilen, verwandeln? Anna Heringer beantwortet diese Fragen nicht abstrakt, sondern praktisch – mit Lehm, Bambus, Textilien und Geschichten, die unter die Haut gehen. Ihr Buch Form Follows Love, im Dialog mit der Architekturpublizistin Dominique Gauzin-Müller entstanden, ist keine gewöhnliche Architekt*innen-Monografie. Es ist Biografie, Baupraxis und Gesellschaftskritik in einem. Und es macht klar: Nachhaltigkeit beginnt nicht bei Normen und Labels, sondern bei der inneren Haltung.

Das Frauenpowerteam von Studio Anna Heringer | Foto ©: Studio Anna Heringer

Das Frauenpowerteam von Studio Anna Heringer | Foto ©: Studio Anna Heringer

Das Frauenpowerteam von Studio Anna Heringer | Foto ©: Studio Anna Heringer

Architektur als Prozess

Heringers These ist einfach: Gute Architektur braucht keine Hightech, sondern Vertrauen, Kreativität und Zuwendung – zu Menschen, Orten und Materialien. Sie erzählt von ihren Anfängen, ihrem prägenden Aufenthalt in Bangladesch, von der METI-Schule, die sie dort mit lokaler Bevölkerung, Lehm und Bambus errichtet hat und von dem Moment, als sie erfuhr, dass das Dach der Schule von Käfern zerfressen wurde. Keine Katastrophe, wie sie befürchtet hatte. Sondern ein natürlicher Prozess, der Arbeit und Einkommen brachte – und ein besseres neues Dach.

Diese Erfahrung führt zum Kern ihres Denkens: Architektur muss nicht ewig halten. Sie muss wirken. Und wirken heisst in diesem Fall nicht beeindrucken, sondern ermächtigen. Wissen weitergeben. Lokales Handwerk einbeziehen. Materialien so einsetzen, dass kein Müll zurückbleibt, sondern Fähigkeiten, Stolz und Selbstbestimmung.

METI-Schule in Bangladesch: Wie muss eine Schule beschaffen sein, damit Kinder sich dort wohlfühlen? Diese Frage stellte sich Anna Heringer nach Gesprächen mit dem Direktor und dem Schulleiter. Ihre Antwort: eine Schule, die nicht autoritär wirkt, sondern einladend – mit organisch geformten Räumen, die an Höhlen erinnern und ein Gefühl von Schutz und Wärme vermitteln. | Foto: Peter Bauerdick
Nach einer persönlichen Krise fand sie beim Lehmbaumeister Martin Rauch neue Inspiration. Der traditionelle Baustoff Lehm überzeugte sie so sehr, dass sie ihr Diplomthema änderte und mit dem fertigen Schulbau später den renommierten Aga Khan Award for Architecture gewann. Bei der Eröffnung der METI-Schule im Jahr 2006 ersetzten bunte Saristoffe die noch fehlenden Türen. Anna Heringer gefiel diese provisorische Lösung so gut, dass sie sie dauerhaft beibehielt. | Foto: Kurt Hoerbst

Gegen die Angst vor dem Verfall

Heringer stellt dem westlichen Perfektionsanspruch eine Baukultur gegenüber, die mit Veränderung und Vergänglichkeit rechnet. Aus ihrer Sicht liegt eines der grössten Hindernisse für nachhaltiges Bauen in der weitverbreiteten Angst vor Verfall – und dem reflexartigen Versuch, Gebäude möglichst dauerhaft und unvergänglich zu machen. Das führt zu einem exzessiven Einsatz von Zement, Kunststoffen und chemischen Zusätzen. Doch anstelle dieser künstlichen Dauerhaftigkeit plädiert sie für Bauten, die sich im besten Fall rückstandslos wieder auflösen lassen – und stattdessen Wissen, Fähigkeiten und soziale Wirkung hinterlassen. Die Idee eines Verfallsplans» wird dabei nicht als Schwäche verstanden, sondern als logischer Teil eines zirkulären Denkens.

Ihr Buch bringt viele dieser Gedanken zur Sprache – pointiert und erzählerisch. Stellenweise wirkt das Buch wie ein engagierter Gegenentwurf zum wachstumsgetriebenen Bauen – und wie ein Plädoyer für eine Architektur, die gesellschaftliche Verantwortung ernst nimmt. Aber nie dogmatisch. Immer persönlich. Sie spart Krisen und Zweifel nicht aus, erzählt offen von mentalen Zusammenbrüchen, Rollenbildern, der Kritik als Mutter und Frau im Architekturbetrieb. Und gerade diese Offenheit macht das Buch so stark. Es bringt Haltung und Lebenspraxis zusammen, was selten gelingt.

Wie aus der Erde gewachsen: Das erste Schulgebäude des Campus in Tatale (Ghana), 2023, zeigt sich in einem warmen Rot, das dem Ton des lokalen Lehms entspricht. | Foto © Studio Anna Heringer

Wie aus der Erde gewachsen: Das erste Schulgebäude des Campus in Tatale (Ghana), 2023, zeigt sich in einem warmen Rot, das dem Ton des lokalen Lehms entspricht. | Foto © Studio Anna Heringer

Wie aus der Erde gewachsen: Das erste Schulgebäude des Campus in Tatale (Ghana), 2023, zeigt sich in einem warmen Rot, das dem Ton des lokalen Lehms entspricht. | Foto © Studio Anna Heringer

Liebe als Planungsprinzip

Der Titel Form Follows Love ist kein romantisches Spiel mit dem berühmten Mies van der Rohes «Form follows function» sondern ein Entwurf für eine andere Baukultur. Eine, in der nicht Effizienz, sondern Beziehung der Ausgangspunkt ist. Beziehung zu Material, Ort, Mensch, Geschichte. Diese Haltung zeigt sich nicht nur in Heringers Architektur, sondern auch in Projekten wie Dipdii Textiles, das sie selbst initiiert hat. Anstatt dass Kleidung in Bangladesch unter schlechten Bedingungen für den globalen Markt produziert und später als Abfall entsorgt wird, entsteht hier etwas völlig anderes: handgefertigte Decken und Kleidungsstücke aus alten Stoffen – gefertigt von lokalen Näherinnen, in Europa als langlebige Unikate geschätzt. Das Projekt schafft Einkommen, stärkt Handwerk und verleiht Weggeworfenem neuen Wert. Es ist gelebte Ressourcenschonung Diese Architektur beginnt nicht beim Grundriss, sondern im Alltag.

Und sie endet nicht beim Gebäude. Sie fragt: Warum ist CO₂-freier Lehmbau teurer als CO₂-intensiver Beton? Warum besteuern wir Handarbeit, aber nicht Zement? Ihre Antwort ist klar: Menschliche Energie sollte entlastet werden. Der Gedanke wirkt im globalen Markt unzeitgemäss, ist aber gleichzeitig erschreckend logisch.

Bei den Bamboo Hostels in China trifft traditionelle Bauweise auf poetische Formensprache: Der Kern der Gebäude besteht aus Stein und Stampflehm, ergänzt durch regionalen Bambus. Körbe und Fischreusen dienten als Inspirationsquelle für die Architektur. | Foto: Jenni JI

Bei den Bamboo Hostels in China trifft traditionelle Bauweise auf poetische Formensprache: Der Kern der Gebäude besteht aus Stein und Stampflehm, ergänzt durch regionalen Bambus. Körbe und Fischreusen dienten als Inspirationsquelle für die Architektur. | Foto: Jenni JI

Bei den Bamboo Hostels in China trifft traditionelle Bauweise auf poetische Formensprache: Der Kern der Gebäude besteht aus Stein und Stampflehm, ergänzt durch regionalen Bambus. Körbe und Fischreusen dienten als Inspirationsquelle für die Architektur. | Foto: Jenni JI

Was bleibt?

Dieses Buch zeigt keine Perfektion. Es lässt Brüche, Widersprüche, Übergänge zu. Es versammelt Projekte, Dialoge, textile Arbeiten, Gespräche – und vor allem eine Haltung zur Architektur, die über das Objekt hinausreicht. Architektur als soziales Handeln. Als gelebte Verantwortung.

Form Follows Love. Intuitiv bauen – von Bangladesch bis Europa und darüber hinaus

Birkhäuser

Erste Ausgabe 2024

Sprache: Deutsch, English, Française

160 Seiten, 61 Abbildungen

17 x 24 cm

CHF 46.–

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