Einfamilienhaus, Sitten
,
Schweiz
Veröffentlicht am 26. August 2020
savioz fabrizzi architectes Sàrl
Projektdaten
Basisdaten
Gebäudedaten nach SIA 416
Beschreibung
Urbaner Rückzugsort
Das hier vorgestellte Einfamilienhaus weist Ähnlichkeiten mit den bereits vom Architekturbüro Savioz Fabrizzi umgebauten Maiensässen auf. Auch wenn diese Alphütten von dem eher geschlossenen architektonischen Ausdruck der Bergwelt geprägt sind, so zieht dieses Umbauprojekt seine Introversion aus der urbanen Umgebung.
Die Ruelle du Midi liegt im südlichen Teil der Altstadt von Sitten am Fusse des Schlosses der Basilique de Valère. Eine Gebäudefront trennt die Strasse vom Place du Midi, der die Grenze zu dem orthogonalen Strassennetz der im 19. Jahrhundert errichteten Viertel markiert. Kaum vorstellbar, aber wahr: mit ihrem Umbauprojekt haben Savioz Fabrizzi architectes in diesem dicht bebauten Kontext mitten im Stadtzentrum ein Einfamilienhaus mit Garten erschaffen. Es wird seit dem Sommer 2019 von einer fünfköpfigen Familie bewohnt.
Beschränkungen, die inspirieren
Die von der Familie erworbene Parzelle befindet sich hinter den Galeries du Midi, einem 1964 erbauten Kaufhaus, ein Zeitzeuge des Einflusses der modernen Architektur im Wallis der Nachkriegszeit. Die für einen Innenhof einer Blockbebauung charakteristische Materialität des Ortes besteht aus Fassaden mit Spuren aus der Vergangenheit und einer Hartbelagsfläche, auf der einige wenige Parkplätze den Bewohnern eines Nachbargebäudes zur Verfügung stehen. Ein Gebäude, das niedriger ist als die umgebende Umbauung, befüllt den Hof zur Hälfte. Ein durchbrochenes Pultdach folgt dem Dachfirst der imposanten Fassade aus Sichtnaturstein und stützt sich auf die zweite, niedrigere Fassade, die durch einen Vorbau durchbrochen ist. Handbemalte Schriftzüge weisen auf die frühere Existenz eines Weinkellers hin, der nun durch ein Einfamilienhaus ersetzt wurde.
Der Bauherr hatte einen klassischen Wunsch: Er wünschte sich ein Haus mit Garten für eine fünfköpfige Familie sowie ein Zimmer für jedes der drei Kinder. Die Grundstückslage, aber auch die von der Denkmalschutzkommission der Stadt auferlegten Vorschriften verkomplizierten dieses Mandat: Um das Natursteinmauerwerk zu erhalten, durfte man das bestehende Volumen nicht überschreiten. Hinzu waren die räumlichen Verhältnisse vor Ort durch die geschlossene Bauform beengt. Auch fehlte der Ausblick.
Die von den Architekten entwickelte Lösung gleicht einer Neuinterpretation eines urbanen Einfamilienhauses mit Eingangsbereich und Garten auf der Rückseite: Weil die Fläche nur begrenzt bebaubar war, wurden die einzelnen Elemente des Einfamilienhauses innerhalb der bestehenden Fassaden ineinander verschachtelt. Das Projekt, eine Mischung zwischen bürgerlichem Stadtgebäude und der Immeuble-Villa von Le Corbusier (1922), wird besonders durch einen Hängegarten auf Höhe des ersten Geschosses aus dem ein Piano nobile wurde.
Landschaft im Inneren
Das Haus ist allseitig von den Nachbarbauten umschlossen. Es präsentiert sich als ein in sich gekehrter Rückzugsort, der um einen Innengarten herum organisiert ist. Der Zugang zum Erdgeschoss, eine Art bewohntes Sockelgeschoss, erfolgt über den ehemaligen Vorbau der Weinkellerei, der zu einem überdachten Vorplatz mit einem Eingang in doppelter Höhe führt. Ein Teil dieses Geschosses beherbergt ein Schlafzimmer mit dazugehörigem Badezimmer. Ein kleiner Innenhof mit einem Ahornbaum, der durch eine Öffnung in der Decke des oberen Geschosses wächst, sorgt für ausreichend Tageslicht. Eine gerade Treppe führt zum nächsten Geschoss, das um den hängenden Garten herum organisiert ist. Diese 80 Quadratmeter auf einer Ebene profitieren durch ihre aussermittige Lage von einer guten Sonneneinstrahlung. Das partielle Auskoffern der Geschossdecke ermöglichte es, sie mit einem Rasen zu bepflanzen. Wilder Wein klettert die Wand des Hofes empor.
Die verglaste Fassade markiert die Grenze zum Innenbereich, der sich auf natürliche Weise in L-Form um den Garten windet. Direkt neben der Treppe zum Eingangsbereich liegt das Wohnzimmer. Es ist als ein hoher Raum angelegt, von dem aus man die Volumetrie und die Raumaufteilung des ganzen Hauses erkennen kann. Der Küchen- und Essbereich ist in der Nische des nächsten Geschosses platziert, vor einem Schlafzimmer, das durch eine Betonwand verborgen liegt. Verbunden ist es mit einem Badezimmer auf der unteren Ebene und profitiert, wie auch das erste Schlafzimmer im Erdgeschoss, vom hellen Tageslicht aus dem Innenhof. Die Materialität des Gebäudes ist bewusst minimalistisch gehalten; der Sichtbeton offenbart die strukturelle Funktion einiger Wände, während alles andere in Weiss gehalten ist: Putz für das umgebende Gemäuer und die Zwischenwände, Giessharz für die Böden. Das kontrastreiche Verhältnis zwischen einem homogenen weissen Interieur und der Grünfläche im Garten, beides mitten in der Altstadt, verstärkt den introvertierten Charakter einer landschaftlich gestalteten Wohnung, die sich einem Spiel von Nah und Fern hergibt.
Der Treppenaufgang zum obersten Stockwerk des Hauses mündet in einen Gang, dessen Wand sich durch eine grosse Öffnung im Gebälk auszeichnet. Damit gibt es genügend Licht auf dem offenen Treppenabsatz und dem Flur, der zu den Schlafzimmern und dem kleinen Badezimmer führt.
Resultat des Sittener Zeitgeistes
Die Qualität der architektonischen Planung dieses Projekts ist unbestritten, aber auch
das Ergebnis einer neuen Methodik, um das Kulturerbe der Altstadt von Sitten besser zu schützen und zu bewirtschaften. Jedes Umbauvorhaben wird auf der Grundlage einer amtlichen Bestandsaufnahme entworfen; diese bestimmt auch, was zerstört oder umgebaut werden kann und was erhalten bleiben muss. Damit wird das Risiko von Klagen und Verfahren reduziert. Gleichzeitig lebt das Gedächtnis der Stadt damit auf. Diese pragmatische Haltung in Hinblick auf das Kulturerbe sorgt für bessere Wohnverhältnisse. Savioz Fabrizzi veranschaulicht in diesem Umbau das architektonische Potenzial des «New Deal».
Architekt Laurent Savioz, Savioz Fabrizzi architectes (Sion):
«Sämtliche Böden sind mit einem weiss glasierten Harz beschichtet, der im Innenbereich für ein einheitliches Ambiente sorgt und gleichzeitig das Gebäude stark von seinem Kontext abhebt.»
Architekt Laurent Savioz, Savioz Fabrizzi architectes (Sion) zum Dachbegrünungssystem:
«Die Kombination aus einer 30 cm dicken Erdschicht und einer Flachdachisolierung
führt zu sehr zufriedenstellenden Ergebnissen in Bezug auf die Rasendichte.»
Text: François Esquivié
Erstveröffentlichung: Magazin der Schweizer Baudokumentation 2020 - 2